Für ein optimistisches Europa der Zukunft
„Wir erleben in Europa eine schwere Krise (…) Europa muss die Werte wiederentdecken, auf dessen Basis es gegründet wurde“. Diese Worte stammen vom Bürgermeister von Predappio, Giorgio Frassineti, der im Geburtsort von Mussolini mit einem geplanten Dokumentationszentrum, neue Impulse in die Diskussion rund um den Umgang mit dieser schwierigen Epoche bringen will. Er hält die Geschichte als ein geeignetes Mittel, um Europas Krise zu begegnen, die vor allem eine Identitätskrise ist. Was ist dieses Europa und wo soll es in Zukunft stehen? Leider wird weder in der Bevölkerung noch in der Politik ernsthaft über dieses Thema diskutiert und nachgedacht – mit fatalen Auswirkungen für den ganzen Kontinent.
Giorgio Frassineti spricht im Interview im Dezember 2016, einige Tage nach dem gescheiterten Referendum in Italien, nach der Wahl von Donald Trump in den USA und nach dem Brexit etwas Fundamentales an, dass in den derzeitigen Diskussionen in Europa leider vergessen wird: Die Frage nachdem, was überhaupt Europa ist und was Europa sein soll. Gibt es so etwas wie Europa überhaupt? Wo liegt unsere Vergangenheit und wie soll unsere Zukunft aussehen? Auf diese Fragen haben derzeit die wenigsten eine Antwort – wenn es überhaupt eine klare Antwort geben kann. Denn so vielseitig wie Europa sind auch seine Probleme: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Währungskrise, um nur einige der Krisen der letzten Jahre zu nennen, die den Kontinent heimgesucht haben. Reflexartig mit neuen Krisen tauchen in Europa auch die gleichen Diskussionen auf: Wie lange hält der Euro noch? Wann geht die EU unter? Dabei kann solch eine Krise auch eine Wahl sein, in der euroskeptische Parteien starke Zugewinne haben. Jedes Ereignis, dass gegen die Europäische Union gerichtet ist, führt zu einem starken Infrage stellen der Union und Europa im Ganzen. Die Wahl von Trump, der laut eigenen Aussagen von der EU nicht sonderlich viel hält und die unlängst getätigten Ankündigungen von Marine Le Pen bei ihrer möglichen Wahl zur neuen Präsidentin Frankreichs Schluss zu machen mit der EU und mit allen internationalen Verträgen, verstärken diese Ansicht nur. Im öffentlichen Diskurs geht es nur um Überleben und um die Frage: Wie lange gibt’s diese EU überhaupt noch? Eingeklammert zwischen einem unberechenbaren Partner jenseits des Atlantiks im Westen und autoritären Systemen in Russland und der Türkei, scheint der starke Aufwind der Europaskeptiker erst recht zu zeigen, dass es um die Idee der EU und Europa nicht gutsteht. Doch nicht nur außenpolitisch ist die EU unter Zugzwang: Auch in ihrem Inneren rumort es, nicht nur durch die angesprochenen rechten, europakritischen Parteien, sondern auch durch nationale Alleingänge, die in unterschiedlicher Art und Weise sich gegen EU-Grundsätze stellen: Seien es Österreichs Pläne den Zuzug von EU-Arbeitskräften einzudämmen, die deutsche PKW-Maut oder die Politik von Orban in Ungarn – die EU im Jahre 2017 ist zu einem Selbstbedienungsladen verkommen, wo Politiker in Brüssel die großen Europäer spielen und daheim in ihren Ländern massiv Politik „für die eigenen Leut“ machen. Über alle Ursachen zu sprechen, wäre hier müßig, zu oft wurde darüber schon berichtet. Zusammengefasst aber zeigt sich das Bild eines Europas, dass nicht so recht weiß, was es will, welche Rolle und Bedeutung es in Zukunft in einer globalisierten Welt überhaupt spielen will, ein Europa, dass auch weitgehend vergessen hat, wieso es überhaupt vereint werden muss. Immer mehr Menschen in ganz Europa fragen sich daher: Brauchen wir das alles überhaupt? Die Kritik an der EU ist dabei vor allem eine Kritik an den negativen Auswirkungen der Globalisierung, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu einer Verschlechterung ihrer Lebensumstände geführt hat. Das heillose Herumtaumeln der europäischen Politiker und der derzeitige Unmut zeigen es immer deutlicher: Dieses Europa von heute hat keine Vision und weiß nicht, was es sein will. Es gibt keine Ziele mehr, für die es wert wäre gemeinsam Initiativen zu setzen. Dazu kommt ein Fehlen von klaren und vor allem glaubhaften Aussagen der Politiker, die sich für ein gemeinsames Europa einsetzen. Giorgio Frassineti bringt es dabei mit seinem Satz auf einen Punkt: Die EU hat vergessen, wieso sie gegründet worden ist, wofür sie steht und was ihre Aufgabe ist. Dabei darf jedoch der Bogen nicht zu eng gespannt werden, denn nicht nur die EU als Institution hat diese Werte vergessen, sondern auch der gesamte Kontinent und jene Staaten, die sich als „europäisch“ bezeichnen. Vor allem aber geht es um den Einigungsprozess, der jahrzehntelang als alternativlos hingestellt worden ist und der in den letzten Jahren sogar wieder Rückschritte macht. Nicht nur der EU ist durch das reine Verwalten von Krisen dieses Bewusstsein nach den Gründungswerten und einer Vision für die Zukunft abhandengekommen, nein, der gesamte Kontinent hat dies verloren und ist gefangen in einem scheinbar ewig andauernden Kreislauf von Krisen und Problemen. Daher ist es kein Wunder, dass auch nur die Möglichkeit des Sieges einer europaskeptischen Partei oder ein Referendum in einem Mitgliedsland ausreicht, um das gesamte Projekt EU infrage zu stellen. Denn auch EU-Befürwortern dürfte mittlerweile klargeworden sein, dass die EU in dieser Form nicht mehr weiterarbeiten kann, da auch wesentliche Bestimmungen (wie etwa Schengen oder die Grundfreiheiten) nur mehr teilweise gültig sind.
Um aus dem Kreislauf von Krisen auszubrechen, braucht es ein klares und deutliches Bekenntnis was Europa und die EU sein soll – und was nicht. Es braucht eine klare Kompetenztrennung zwischen Nationalstaaten und der EU, damit beide effizienter arbeiten können. Die komplette Zentralisierung ist dabei ebenso die falsche Antwort wie eine komplette „Zerstörung“ der EU, wie sie zahlreiche Stimmen, vor allem aus dem rechten Eck, fordern. Doch primär muss Europa wissen, was es will und wohin es will. Was für jedes gut geleitete Unternehmen gilt, muss auch für Europa dringendst umgesetzt werden. Denn vor allem rechtsgerichteten Parteien, die eine komplette Auflösung der EU zugunsten der Nationalstaaten wollen, sollte klar sein, dass die Globalisierung nicht rückgängig machbar ist, jedoch ihre negativen Auswirkungen nur durch eine gemeinsame Politik reduziert werden können. Daher muss Schluss sein mit dem Doppelspiel zahlreicher Politiker, die in Brüssel Beschlüssen zustimmen und daheim diese eigenen Entscheidungen kritisieren. Europa muss klären, was es ist und was es sein will, es ist dies der einzige Weg für diesen Kontinent international glaubwürdig zu wirken. Nur so kann man in Zukunft, in einer noch mehr globalisierten Welt, überhaupt noch eine Rolle spielen. Eine starke EU kann ein starkes Gegengewicht zu Russland und den USA sein und als größter Wirtschaftsraum der Welt zahlreiche Impulse für den weltweiten Handel – und damit auch für die Steuerung der Globalisierung – aussenden. Es ist ein großer Irrglaube vieler Menschen, dass eine Schwächung oder gar keine Zerstörung der EU in ein neues „goldenes Zeitalter“ führen würde. Denn wir befinden uns nicht mehr in den 1970er oder 1980er Jahren, die Welt ist globalisierter als je und jede Schwächung der EU ist automatisch auch eine Schwächung von Europa und damit von uns allen. Dies soll nicht implizieren, dass die EU in ihrer derzeitigen Form nicht reformiert gehört, auch hier sind zahlreiche Reformen notwendig, die aber alle von einer ganz zentralen Fragestellung abhängen: Was will Europa? Was ist Europa? Wohin will Europa? Erkennt Europa, was es ist und wohin es will, dann ist das der erste Schritt den Teufelskreis der Krisen zu durchbrechen und international wieder aus der Defensive auszubrechen, um diese Welt wieder mitzugestalten.
Die Frage nach dem „Was ist Europa?“ und was diese so oft zitierten „Europäischen Werte“ sind, lässt sich am besten in Regionen beobachten, die im letzten Jahrhundert zu „Opfern der Geschichte“ wurden. Dies können Orte sein, wie Predappio, oder Verdun, oder ganze Landstriche, wie Südtirol. Diese Regionen und Orte liegen oft an „Bruchlinien“, an diesen Bruchlinien waren die Kriege des 20. Jahrhunderts und ihre Folgen besonders ausgeprägt. Oder sie wurden – wie im Falle Predappios – Opfer einer massiven Propaganda von totalitären und autoritären Systemen. Selbst heute, 100 Jahre nach dem Ersten- und 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese Bruchlinien noch lange nicht verschwunden. Viele dieser Bruchlinien entstanden oft Hand in Hand mit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Denn wenn wir heute viele Staaten mit mehrheitlich homogener Bevölkerung in Europa finden, dann ist das das Ergebnis von zwei großen Weltkriegen und Millionen Toten. Dem Mittelalter war das Konzept „Staat“ unbekannt, die Donaumonarchie vereinte zahlreiche Völker und Ethnien unter einer gemeinsamen Herrschaft und dies über Jahrhunderte. Erst im 19. Jahrhundert wurden künstliche Einheitsstaaten gegründet, Italien und Deutschland dienen hier als Beispiel. Und plötzlich wurde die Frage nach einer Zugehörigkeit zu einer Ethnie zum einzigen Kriterium, ob man Staatsbürger ist oder nicht. So gab es nicht nur Millionen von Toten, sondern im Zuge von Ersten und Zweiten Weltkrieg auch Millionen Menschen, die ihre alte Heimat verließen (mussten), um diesen neuen Kriterium zu genügen. Es waren also die beiden Weltkriege, die die Gedanken der im 19. Jahrhunderts begründeten Strömung des Nationalismus, zur Höchstform brachten – mit dem Ergebnis von Millionen Toten, aber Staaten mit homogenen Bevölkerungsstrukturen, die ganz dem Konzept des Nationalismus genügten.
Besonders schmerzhaft waren diese Vorgänge hin zu den homogenen Nationalstaaten in jenen Regionen, die an diesen Bruchlinien lagen. Südtirol kam 1919 als komplett deutschsprachiges Gebiet an Italien und wurde von Nord- und Osttirol abgetrennt. Die bekannte Südtiroler Journalistin Lilli Gruber, die im italienischen Fernsehen als erste die Hauptabendnachrichten (TG) präsentierte, widmete sich in ihrem Buch „Das Erbe: Die Geschichte meiner Südtiroler Familie“ genau jener Dramatik, die sich im 20. Jahrhundert in diesen Regionen abspielte. Sie schildert die schwierige Situation nach dem Ersten Weltkrieg, die ihre Urgroßmutter ausgesetzt war, von wirtschaftlichen Problemen bis hin zu den Repressalien, die nach der Machtergreifung Mussolinis ab 1922 ihre Urgroßmutter und ihre gesamte Familie trafen. Einfühlsam und historisch sachlich schildert Gruber all diese Herausforderungen, die Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg durchmachen musste und gibt mit dieser Geschichte einer Südtiroler Familie jenen Prozessen der „Nationalisierung“, die in zahlreichen Ländern Europas nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stattfanden, eine persönliche Seite. Doch nicht nur Südtirol war davon betroffen: In Kärnten entstand das fanatische Bild eines völlig überhöhten „Deutschtums“, das die tausendjährige, gemeinsame Geschichte mit der slawischen Bevölkerung ausradieren wollte und einen „Abwehrkampf“ startete. Bis heute gibt es einen Verband dieser „Abwehrkämpfer“ (!) und jüngste Ereignisse zeigen, dass diese Gedanken bis heute Bestand haben und an diesen Bruchlinien, wo Minderheiten das Konzept des „reinen“ Nationalstaat „stören“, bis heute sichtbar sind.
Doch es sind gerade jene Regionen an diesen „Bruchlinien“, Südtirol oder Kärnten, oder auch Elsass-Lothringen, die die Idee und die Bedeutsamkeit der Europäischen Union und des Europagedankens besonders sichtbar machen. Gerade dort, wo der Nationalismus zweier Nationen sich in die Quere kommt, genau dort macht Europa Sinn. Die schlichte Aussage „Nie mehr Krieg!“ mag vielen Menschen nur mehr ein müdes Lächeln abwinden, sollte aber auch im Jahr 2017 noch immer einer der Hauptgründe sein, sich für ein gemeinsames Europa einzusetzen. Besonders sichtbar wird dies in Südtirol: Die Urgroßmutter von Lilli Gruber durfte ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Kinder durften kein Deutsch mehr lernen und ein Besuch von Familienangehörigen in Nordtirol war nur mit großen bürokratischen Aufwand möglich. Für Lilli Gruber stellten sich diese Fragen nicht mehr: Sie arbeitet in zahlreichen Ländern, spricht perfekt Deutsch und Italienisch und lebt in einer Region, in der durch den Einigungsprozess alte Grenzen bereits überwunden wurden. Die Stärke des vereinten Europas liegt in der Überwindung des Nationalismus, eines Konzeptes des 19. Jahrhunderts. Dies ist in Regionen, in denen durch Transformationsprozesse nur mehr eine Bevölkerungsgruppe vorherrschend ist, kaum sichtbar, wird aber umso mehr sichtbar in jenen Regionen, die „Opfer“ des 20. Jahrhunderts wurden. Hier ist der Europagedanke ein „Pflaster“ und hilft die Wunden langsam vergessen zu machen, die zwei Weltkriege mit sich brachten. Ähnliches gilt für die Alpe-Adria Region: Dort wo vor 100 Jahren vielleicht die Großväter eines Italieners und Österreichers an der Isonzo-Front kämpften und der eigentlich türkise Fluss vom Blut rot gefärbt war, fischen heute ein Italiener und ein Österreicher gemeinsam oder sitzen Jugendliche mit ihren Bierdosen bei einem Festival nahe der Stadt Tolmin am Ufer dieses Flusses.
Fakt ist: Das Europa der Nationalstaaten und ihrer homogenen Bevölkerungsstrukturen ist großteils ein Ergebnis von zwei fatalen Weltkriegen, die quer durch ganz Europa Millionen an Menschen in Bewegung brachten. Hinter der Parole „Nie mehr Krieg“ verbirgt sich viel mehr: Es ist das Bekenntnis zu einer historisch gewachsenen Pluralität ganz nach dem Motto „In Vielfalt geeint“ und stellt sich dabei klar gegen den Nationalismus. Sichtbar wird dies in Regionen, die an „Bruchlinien“ liegen, dort, wo es (noch) Minderheiten gibt. Es sind jedoch nicht nur die Regionen, sondern auch die Orte, wo man den Sinn für Europa spüren kann. Neben Predappio als Kultort für den „ersten Faschisten“ Benito Mussolini ist dies etwa auch Verdun, wo tausende Soldaten den Tod fanden. Wenn Giorgio Frassineti vom „Wiederentdecken der Gründe und Motive Europas“ spricht, dann meint er vor allem das – Das Vereinigungsprojekt ist die Antwort auf zwei Weltkriege und gegen den Nationalismus. Europa muss die Gründe, wieso es vereint wurde, erkennen und akzeptieren, dass Nationalstaaten nichts Gottgegebenes sind, sondern künstlich geschaffen wurden. Denn im Grunde sind Nationalstaaten nichts anders als Verwaltungseinheiten, die mit dem Aufkommen des Begriffes Staat zur besseren und umfassenden Verwaltung eingerichtet wurden. Die Ideologie rund um den Nationalstaat entstand oft Hand in Hand mit dem Nationalismus – die Grenze zwischen Patriotismus und Nationalismus ist dabei aber nicht klar zu finden. Wichtig sollte jedoch sein einen Bewusstseinsprozess einzuleiten, der den Menschen klar macht, dass ihre Nationalstaaten künstlich geschaffen sind und gleichzeitig die Menschen dazu zu bringen die Begriffe Staat und Nation kritisch zu hinterfragen – am besten mit konkreten Beispielen aus der Geschichte in jenen Regionen, die an Bruchlinien liegen.
Doch auch wenn man – nachdem man die Gründe kennt, die überhaupt so einen Einigungsprozess notwendig machten – weiß, dass man Europa nun irgendwie definieren muss, so stellt sich die Frage, ob dies nicht auch wieder eine künstliche Definition ist, denn sowie etwas als „typisch österreichisch“ angesehen wird, so wäre auch „typisch europäisch“ nur eine Konstruktion. Europa kann man dennoch als historisch gewachsene „Klammer“ oder besser als „Dach“ ansehen, das seit der Römerzeit über eine Geschichte verfügt, die alle Europäer gemeinsam haben und die sich von jenen anderen Kontinenten unterscheidet. Dieses „Dach“ ist schwer zu definieren, ist jedoch eine Kombination aus Lebensstil, der sich aufgrund der vielen, jahrhundertelangen Verbindungen ergibt. Dabei ist die Vielfalt Europas genau seine Stärke, denn gerade durch die Geschichte mit den Wirtschaftsverbindungen, die seit Jahrhunderten bestehen, gab es immer einen regen Austausch zwischen den Regionen, vor allem aber ist es das letzte Jahrhundert mit den großen, kollektiven Ereignissen, die alle Europäer gleichermaßen involviert haben: Der Erste Weltkrieg war in erster Linie ein europäischer Krieg und der Faschismus ein europaweites Phänomen. Das „Dach“ wird also nicht nur aus Lebensstil und der gemeinsamen Geschichte definiert, sondern auch durch Werte, die auf dieser gemeinsamen Geschichte aufbauen: Hinterlassenschaften der Römer wie das Römische Recht, der Humanismus, die Renaissance, die Französische Revolution und beide Weltkriege – die Europäer haben alles gemeinsam erlebt und sich über Jahrhunderte weiterentwickelt – oft auf Kosten anderer Kontinente. Doch es ist ihre gemeinsame Geschichte, die sich sogar in dem wiederfindet, dass von zahlreichen Nationalisten als DAS Argument für die Trennung angesehen wird: Der Sprache. Denn neben den romanischen Sprachen, die fast nur am Wortschatz des Lateins aufbauen, sind auch fast alle anderen Sprachen Europas stark am Latein orientiert, auch das Deutsche und das Englische. Die Geschichte und die Werte, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, machen es also überhaupt erst möglich Europa zu definieren. Diese Definition ist dabei nicht klar und eindeutig, doch Europa ist seine Geschichte und genau diese Besinnung auf diese Werte ist es, die Europa gerade jetzt so dringend braucht.
Nachdem nun die Frage nach dem Wieso des Einigungsprozesses und die Frage nach „Was ist Europa?“ geklärt wurde, wurde immer noch keine Antwort auf die wohl schwierigste Frage gegeben: Was ist Europas Vision? Es reicht nicht nur auf diese gemeinsame Geschichte zu verweisen oder die lange Friedensperiode zu betonen, in der die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union seit dem Zweiten Weltkrieg, leben. Eine Vision umfasst weitaus mehr als nur die EU, es geht in der Tat nicht um Sein oder Nicht sein dieser Organisation, nein, es geht um die Rolle, die dieser Kontinent in Zukunft in einer immer vernetzten Welt spielen will. Dabei muss klar werden: Eine Vision kann Europa nicht von einigen wenigen Politikern gegeben werden. Eine europäische Vision muss von einer breiten Bevölkerungsschicht, zusammengesetzt aus verschiedenen Interessensgruppen, heraus entwickelt werden. Dafür ist zuerst einmal ein Grundkonsens möglich, der vor allem von politischen Vertretern – von EU- bis Gemeindeebene – endlich stärker kommuniziert werden muss: Wir alle sind Europa und Europa ist mehr als die EU. Europa – das sind die Erasmus-Studenten, die aufbrechen, um in einem anderen Land zu studieren und heimkommen mit neuen Eindrücken aus anderen Ländern und einer neuen Sichtweise auf Europa. Europa, das sind aber auch Personen, die in einem anderen Land leben und arbeiten, Mitarbeiter in internationalen Organisationen und viele mehr, die so tief in die Seele eines anderen Landes vordringen und so die Pluralität Europas auch persönlich erleben. Diese alle, wir alle, müssen uns fragen, welche Rolle wir in Zukunft spielen wollen. Der Binnenmarkt der EU ist der größte Wirtschafsraum der Welt und der Euro die zweitstärkste Währung der Welt. Europa steht für Innovation und vereint so viel Know-how in so unterschiedlichen Bereichen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen. Es ist daher geradezu skandalös, dass dieses Europa keine Vision für die Zukunft hat. Denn eine jede Vision ist die Basis für weiteres Handeln, für die nächsten Schritte. Jede größere Reform sollte sich an dieser Vision orientieren und nicht umgekehrt, sowie es derzeit der Fall ist. Europas Schwäche ist das Fehlen solch einer Vision. Das Jahr 2017 mit dem 60-Jahr-Jubiläum der Römischen Verträge, vielen entscheidenden Wahlen in europäischen Ländern und neuen geopolitischen Rahmenbedingungen (v.a. Trump), sind so gute Gründe sich solch eine Vision zu geben. Wo soll Europa also in 10 Jahren stehen? Das Europa der Zukunft kann ein florierender Kontinent sein, ein Kontinent der Vielfalt, wo engagierte und talentierte Personen jeden Tag aufs Neue, Lösungen für Probleme in wirtschaftlichen, technischen, sozialen und politischen Bereichen finden. Diese Menschen leben in einer ökosozialen Marktwirtschaft, die eine soziale Sicherheit und ein hohes Maß an Lebensqualität bietet. Europa tritt mit einer reformierten Europäischen Union nach außen stark auf und zwar in jenen Bereichen, in denen es relevant ist: eine einheitliche Außenpolitik, eine klare Verteidigungspolitik und eine koordinierte Wirtschaftspolitik sind dabei die relevantesten Bereiche. Kleinere Ebenen kümmern sich um die Verwaltung, die die Bürger jeden Tag in Anspruch nehmen: Bildung, Gesundheit, Infrastruktur usw. Ausgehend von der Vision, die ein vereintes Europa mit klarer Kompetenztrennung zwischen einer europäischen Institution und regionalen Institutionen vorsieht, ist es so möglich die Probleme Europas besser in den Griff kriegen, die ohne Zweifel in Zukunft noch mehr globale sein werden. Das klingt alles zu romantisch? Die Wahlen 2017 sind vor allem eine Richtungsentscheidung zwischen zwei komplett konträren Denkrichtungen: zwischen jenen, die alles den Bach runtergehen sehen, die Verschlechterung erwarten und die lautstark „früher war alles besser“ rufen und jenen, die voller Zuversicht in die Zukunft schauen, die anpacken wollen und die vor allem sich nicht den Mund verbieten lassen, Dinge weiterdenken und auch einmal etwas Etabliertes infrage stellen. Kurz: Es ist eine Entscheidung zwischen Pessimismus und Optimismus. Wenn wir an eine positive Zukunft glauben, optimistisch sind und an die Verwicklung der Vision glauben, dann arbeiten wir auch produktiver, sind leistungsfähiger und reagieren flexibler auf Rückschläge. Die Aufgabe der Politik ist es Optimismus zu verbreiten, dabei natürlich jedoch am Boden der Tatsachen zu bleiben, aber dennoch eine Vision einer positiven Zukunft zu entwickeln. Es waren zwei Weltkriege noch nie dagewesenen Ausmaß, die uns dazu gebracht haben, eine Europäische Union in die Wege zu rufen. Doch in den letzten 70 Jahren ist viel passiert, die Welt ist kleiner geworden und kleine Konflikte können weltweite Auswirkungen haben. In einer globalisierten Welt ist eine starke Institution, die eine einheitliche Stimme Europas in der Welt garantiert, unabdinglich. Wir sollten daher aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, um so die Gegenwart besser zu verstehen und eine Vision mit Zielen für die Zukunft entwickeln. Dabei sollten wir niemals den Optimismus verlieren. Europa 2017 steht vor einer wichtigen Entscheidung, die weit mehr als nur die EU betrifft. Geben wir diesem Europa eine Vision, die auf Optimismus, auf Miteinander statt Gegeneinander und auf unserer gemeinsamen Geschichte aufbaut. Wir sind es Europa schuldig.