Demokratien ohne Gedächtnis?
Viktor Orban erklärte bereits die „illiberale Demokratie“ zur neuen Zukunft der alten Demokratie. Und auch sonst verliert die Demokratie erheblich an Strahlkraft. Was es braucht, damit die Demokratie wieder stärker wird und was damit der Optimismus und die Geschichte zu tun hat.
„Wir müssen die klassischen liberalen Methoden und Prinzipien aufgeben, die es für die Organisation einer Gesellschaft braucht. […] Wir schaffen einen gewünschten illiberalen Staat, einen nicht liberalen Staat, [weil] die Werte der Freiheit des Westens heute auch die Korruption, den Sex und die Gewalt inkludieren.“
Diese Aussage stammt vom ungarischen Regierungschef Viktor Orbán, der im Juli 2016 das westliche Demokratiemodell für gescheitert erklärt hat – und die Zukunft in „illiberalen“ Staaten wie Russland oder China sieht. Die ARD berichtet am 14. Februar 2018, dass Polen seine im Ausland lebenden Landsleute auffordert, antipolnische Äußerungen an nationale Stellen zu melden. Diese Aktion steht in Verbindung mit einem umstrittenen Gesetz, dass unter Androhung von drei Jahren Haft, Polen für die Holocaust-Verbrechen verantwortlich zu machen, eingeführt wurde. [1] Und während in Ungarn öffentlich von einer „illiberalen Demokratie“ gesprochen wird, werden in Polen laufend Schritte unternommen, die im „nationalen Interesse“ die Demokratie zu eben dieser machen. Es reicht ein aufmerksamer Blick, nicht nur nach Osteuropa, sondern auch in die USA und auch nach Österreich, um zu sehen, dass die Demokratie in einer echten Krise steckt. Und nicht nur sie. Am Prüfstand steht viel mehr die historische Wahrheit. Wenn in Polen Gesetze erlassen werden, die jede Behauptung unter Strafe stehen, dass Polen in den Holocaust in irgendeiner Weise involviert war, dann läuft etwas gehörig schief. Wenn in einem Staat nicht mehr offen etwa über die Kollaboration einiger Polen mit dem Nazi-Regime gesprochen oder geschrieben werden darf, weil das die „nationale Würde und den nationalen Stolz“ beleidigt, dann wird nicht nur die historische Wahrheit in ihren Grundfesten angegriffen, sondern dann steht letztendlich auch die Meinungsfreiheit auf den Prüfstand – und damit die Freiheit.
Optimismus vs. Pessimismus: Eine Frage der Gesellschaft?
Die Vorfälle in Ungarn und Polen und die bewusste Geschichtsverdrehung sind Anzeichen einer schweren Krise der Demokratie in jenen Ländern – doch worauf baut der Wahlerfolg von jenen nationalistisch orientierten Kräften auf? Die Ursachen sind vielseitig und daher nicht einfach erfassbar, dennoch ergibt sich grob zusammengefasst ein zentraler Faktor, um den sich die gesellschaftspolitischen Diskurse drehen: Globalisierung. Die positiven und negativen Auswirkungen von Globalisierung betreffen die Gesellschaft nicht in konstant gleicher Verteilung, es gibt Menschen, die stärker positiv bzw. negativ von verschiedenen Aspekten der Globalisierung betroffen sind. Daher ergibt sich ein zweischichtiges Bild einer Gesellschaft, die zwischen zwei Polen hin und her schwankt: Zwischen Optimismus und Pessimismus. Diese beiden Begriffe beschreiben viel besser als das alte Gegensatzpaar „rechts“ und „links“ die derzeitigen Transformationsprozesse und ihre Auswirkungen in der Politik. Wir haben es demnach nicht mehr mit der Frage nach „Was ist rechts und was ist links?“ zu tun, sondern „Was ist jetzt optimistisch und was ist jetzt pessimistisch?“. Nimmt man die Parlamentswahlen von März 2018 in Italien her, wird dieses Gegensatzpaar sehr gut sichtbar. Es gibt jene Kräfte im Land, die in ihren Wahlkampf die Probleme als Chancen gesehen haben und generell der Zukunft optimistisch entgehen sehen. Sie glauben an Visionen und sind überzeugt davon, dass sich die Dinge positiv entwickeln werden. Probleme können gelöst werden und Krisen werden als Chancen interpretiert. Dem gegenüber stehen Kräfte, die pessimistisch gegenüber der Zukunft eingestellt sind. Hier spielen Visionen eher weniger eine Rolle, viel stärker werden Bedrohungen diverser Natur als Gefahr für die Zukunft angesehen. Die Orientierung ist eher hier mehr auf die Vergangenheit ausgerichtet, ohne sich jedoch konkret auf eine Epoche zu beziehen. Die Vergangenheit wird mystifiziert und diese verklärte Vergangenheit wird dann zeitenthoben mit den Worten „Früher war alles besser“ bezeichnet. Es geht den pessimistischen Kräften weniger um die Zukunft, viel mehr stehen die Bedrohungen der Gegenwart im Fokus ihrer Tätigkeiten, wobei die Schuld von populistischen Kräften vor allem jenen – optimistisch – eingestellten Kräften zugeschoben wird, die zu wenig offensiv, zu wenig wirksam und zu wenig radikal gegen diese Bedrohung vorgehen. Sie werden als „Gutmenschen“ bezeichnet, da sie zu „gut“ sind in einer „bösen“ Welt, die von den Feinden von außen bedroht wird. Logischerweise spielen bei den pessimistischen Kräften auch zukunftsorientierte Konzepte eher weniger eine Rolle, es geht um die Bekämpfung des Übels im Hier und Jetzt. Mit möglichst einfachen Worten und Slogans soll ein möglichst großer Stimmenanteil erzielt werden, Inhalte spielen da nur eine untergeordnete Rolle.
Es liegt an der Hand, dass die Globalisierungsgewinner sich eher auf der Seite der Optimisten einordnen, während pessimistische Kräfte eher Stimmen von den Globalisierungsverlieren erhalten. Es sind jene Menschen, die aus diversen Gründen heute schlechter leben oder dies zumindest glauben. Es sind Menschen, die aus diversen Gründen Angst vor der Zukunft haben, weil sie schon in der Gegenwart die Welt nicht mehr verstehen. In einer komplexen, globalisierten Welt kennen sie sich nicht mehr aus. Sie sehnen sich tief in ihren Inneren nach einer einfacheren Welt, nach einer Welt, die auf traditionelle Macht- und Ordnungssysteme aufbaut. Sie wollen keine Experimente und sehen daher tendenziell die Europäische Union kritisch – sie steht als Inbegriff für all diese Komplexität und die Probleme, die ihr Leben nun prägen.
Da diese Menschen die Welt zu komplex finden, wenden sie sich logischerweise jenen Parteien zu, die traditionelle und einfache Ordnungsstrukturen erhalten wollen und die an bewährten Identitätsmustern (Familie, Religion, Nation usw.) festhalten. Ihr Wunsch nach einer einfacheren Welt gepaart mit dieser verklärten Vergangenheit („Früher war alles besser“) führt sie in die Hand von populistischen Parteien, die genau mit einfachen Parolen auf Stimmenfang geben und diesen Menschen diese Einfachheit geben wollen.
Viele – und das trifft sicher auch bei vielen bei der italienischen Parlamentswahl zu – übersehen dabei jedoch, dass sie ihre Stimme Parteien geben, die autoritäre, antidemokratische und revisionistische Ziele verfolgen. Die Vereinfachung der Gesellschaft ist nicht nur Wahlprogramm, sondern auch Mittel zum Zweck um ihre Macht zu sichern. Die Rufe nach mehr Sicherheit, nach mehr Überwachung und nach mehr „Ordnung“ sind daher sehr kritisch zu sehen. Hinter diesen Ordnungen steht nichts anderes als die „illiberale Demokratie“ nach ungarisch-polnischen Vorbild und in einen weiteren Prozess die Diktatur und ein abstruser Sicherheitsstaat, der gerade heute durch die technologischen Möglichkeiten leicht(er) realisierbar ist.
Und selbst hier wird es einige geben, denen das noch immer egal ist – lieber mehr Ordnung und weniger Freiheit. Genau hier liegt das Problem: Die Gesellschaften Ungarns oder Polens, vor allem jene am Land, sehnen sich knapp 30 Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach einer Einfachheit der Dinge und haben kein Problem damit, wenn eine Regierung „antipolnische Äußerungen“ unter Strafe stellt, Minderheiten diskriminiert, die Verfassung aushebelt oder die Medienvielfalt verringert. Es gibt ihnen Halt und Orientierung – nur keine Experimente! Dies gilt auch für die Gesellschaft, sie haben kein Problem mit traditionellen Wertvorstellungen – wie Familie, eine starke Betonung der Religion und der Nation. Der Zuspruch für Orban in Ungarn oder Putin in Russland ergibt sich aufgrund dieser Orientierung an einer einfachen Welt, in der kein Platz für politisch-gesellschaftliche Neuerungen sein soll, „da es immer so war“.
Ein Problem haben damit nur jene, die aus verschiedenen Gründen anders denken. Sei es, weil sie einer Minderheit angehören (ethnisch, sexuell usw.) oder weil sie kritisch denken und dies auch kundtun möchten oder weil sie ganz einfach sich ihre eigene Identität suchen wollen und nicht in vorgefertigte Muster hineingezwängt werden wollen. In einer Demokratie gibt es nämlich – im Unterschied zu jenen halbdemokratischen oder autoritären Staatsformen – mehr Identitäten, die parallel existieren und die man sich „aussuchen“ kann.
Diese Tendenzen sind weltweit spürbar und erfassen immer mehr Länder. Die Globalisierung erweist sich als Bumerang und bringt die optimistischen Kräfte immer stärker unter Druck. Und es ist genau jene Einfachheit, nach der sich viele der Globalisierungsverlierer sehnen, die auch durch illiberale Systeme wie jenes in Ungarn und Polen die historische Wahrheit dann ebenfalls vereinfacht – mit gravierenden Folgen für die Demokratie.
Die historische Wahrheit und die Demokratie
Die Frage nach der Wahrheit, nach dem was denn wirklich wahr ist, ist eine, die die Geschichtswissenschaft schon lange beschäftigt. Geschichtsschreibung begann als das bloße Notieren von dem, was geschehen ist und diente oft der Legimitierung dessen, was die Herrscher erreicht hatten. Herodot (5. Jhdt. v. Chr.) galt dabei als der erster, der in seinen Historien damit begonnen hat, seinen eigenen Blickwinkel zu verlassen und versuchte auch Zusammenhänge und Ursachen von Ereignissen darzustellen. Es sollte jedoch noch lang dauern, bis die Historiker soweit waren, dass sie Geschichte möglichst objektiv darstellten und ihre eigenen – subjektiven – Standpunkte möglichst ausblenden zu versuchten. Vor allem im 19. Jahrhundert wurde versucht kritisch-theoretische Ansätze zu finden, wie etwa die Quellenkritik, um möglichst objektiv über Vergangenes berichten zu können. Es ging dabei nicht mehr um ein bloßes Notieren von Vergangenem, sondern darum Ursachen, Zusammenhänge und Folgen historischer Ereignisse zu analysieren. Mithilfe der Methoden so hofft man möglichst nahe dem zu kommen, was man als Wahrheit versteht. Dennoch stand die Geschichtswissenschaft gerade auch im 19. Jahrhundert unter Einfluss von Ideologien, vor allen in Zusammenhang mit dem „nation-building“, in dem etwa die Ursprünge und Wurzeln einer Nation gesucht wurden – wo oft stark mythologisiert mehr erfunden wurde.
Der Geschichtswissenschaft heute ist es klar, dass sie niemals eine 100%ige Objektivität erreichen kann. Subjektivität und Standortgebundenheit ist auch beim besten Historiker vorhanden und kann während unserer gesellschaftlichen Einbindungen in sozialen Gruppen unterschiedlichster Art auch nicht einfach „abgelegt“ werden. Aleida Assmann, eine deutsche Kulturwissenschaftlerin, die den Begriff des „kulturellen Gedächtnis“ geprägt hat, erklärt, dass solch ein „kulturelles Gedächtnis“ einer bestimmten Gruppe, vor allem wenn es sich auf der nationalen Ebene befindet, gewissen checks and balances unterliegt. Geschichte und Geschichtsschreibung und vor allem die Deutung von Geschichte ist ihrer Meinung nicht nur mehr Sache der Historiker oder des Staates, sondern vieler einzelner Institutionen und Menschen. Das „kollektive Gedächtnis“ und die Erinnerungskulturen von Gruppen wird von vielen gleichzeitig mitgeformt und geprägt. Ihr Ansatz ist doppelt wichtig, einerseits weil so gezeigt wird, dass es nicht nur die Aufgabe der Historiker ist zu sagen wie und an was wir erinnern, sondern weil sie aufzeigt, dass wir alle uns an dieser Erinnerungskultur beteiligen sollten. Ein Grundinteresse für unsere Geschichte, vor allem für die der letzten hundert Jahre, ist daher notwendig um auch die Historiker selbst wieder neu zu motivieren, Dinge zu hinterfragen, neue Theorien aufzustellen und neue Methoden und Arbeitsweisen in ihre Tätigkeitsbereiche einzuführen. Die „historische Wahrheit“ sollte nicht nur den Historikern überlassen werden, sondern eine aktive Gesellschaft sollte stärker auch an geschichtspolitischen Prozessen Interesse finden. Nur so finden diese gegenseitigen checks and balances statt, von denen Assmann spricht.
Es besteht kein Zweifel daran, dass solch ein System in einer Demokratie am besten funktionieren kann. Freie Meinungsfreiheit und möglichst unabhängige Medien gepaart mit einer vielseitigen, dynamischen Wissenschaft tragen dazu bei, dass ein kritischer Diskurs über historische Ereignisse, vor allem über jene, die belastend für eine Gesellschaft wirken (Genozide, Kriegsverbrechen, usw.), geführt werden kann. Wenn in Polen solch ein Gesetz erlassen wird, zeigt es nicht nur wie schlecht es um die historische Wahrheit steht, sondern wie schlecht es um die Demokratie im Ganzen steht.
Das Große Jammern
Ungarn und Polen zeigen vor allem, dass keine Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten an historischen Aufarbeitungsprozessen stattfinden. Diese Nicht-Beteiligung kann man auf alle weiteren Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen, es handelt sich im Endeffekt um eine desinteressierte und zum Teil auch uninformierte Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) an gesellschaftlichen Prozessen – wie etwa jene einer Erinnerungskultur – beteiligen will. Doch wir müssen nicht unbedingt nach Polen oder Ungarn blicken, um eine desinteressierte Bevölkerung vorzufinden. Es reicht etwa in Länder wie Österreich, Deutschland oder Italien – alle demokratiepolitisch recht erfahren – zu blicken, um zu sehen, dass es den Menschen relativ egal ist was um sie und mit ihnen passiert. Ein Großteil der Bevölkerung beteiligt sich nicht am öffentlichen Leben, sondern jammert nur. Über die unfähigen, korrupten Politiker, über den Stillstand, über die Flüchtlinge, über die Teuerung, über die Europäische Union – generell einfach über alles. Fragt man nach, wieso sie denn nichts unternehmen, nicht Bewegungen und Gruppieren gründen oder sich einer anschließen oder sich etwa in einer Partei engagieren, so erfährt man zumeist, dass es „eh nichts bringt und sich eh nichts ändert“. Die Beteiligung am öffentlichen Leben beschränkt sich auf das Kommentieren von Facebook-Beiträgen. Doch eine wirkliche Beteiligung fehlt heute fast komplett, wie auch eine wirkliche Auseinandersetzung mit Politik und Weltgeschehen heute die Ausnahme darstellt. Die Bevölkerung ist kaum politisiert, es fehlt die Diskussionsbereitschaft. Und es ist diese passive und uninformierte Gesellschaft, die sich dann von den einfachen Parolen der pessimistischen Kräfte besonders begeistern lässt – vor allem, wenn man sich aus verschiedenen Gründen noch als Verlierer fühlt.
Diskussion und Demokratie
Will man als politisch interessierter Mensch über die großen Fragen der Gegenwart diskutieren, so sind nur die wenigstens bereit sich in eine tiefgreifende Diskussion verwickeln zu lassen. Diskutieren wird von den meisten Menschen als etwas Lästiges wahrgenommen und oft mit streiten gleichgesetzt, vor allem wenn man unterschiedliche Meinungen zu Themen hat. Ja, das Suchen nach Argumenten, das Zuhören und Eingehen auf die Gegenargumente kann durchaus anstrengend sein, aber es ist das was eine Demokratie erhält. Auf Facebook und anderen Social Media Plattformen arten „Diskussionen“ unter politischen Posts meist in Frontkämpfen aus, in denen es überhaupt nicht mehr um Diskussion geht, sondern wo persönliche Beleidigungen gegenüber Menschen mit anderen Meinungen Überhand nehmen. „Linkslinke Gutmenschen“ streiten dann mit „Nazis“. Demokratiepolitisch nicht weniger problematisch ist es, wenn sich User über das Hinausfliegen der Grünen aus dem Parlament so dermaßen freuen und schon gleich das Ende der Partei herbeiwünschen. Man muss die Grünen nicht mögen und schon recht nicht unterstützen, aber eine Demokratie lebt von unterschiedlichen Parteien und deren Standpunkte, mehrere Parteien mit unterschiedlichen Standpunkten beleben daher den Wettbewerb. Eine derartige Reaktion zeugt nicht unbedingt von demokratiepolitischen Grundkenntnissen.
Demokratien ohne Gedächtnis
Der italienische Ex-Politiker und Universitätsprofessor Luciano Violante analysiert in seinem neuen Buch „Demokratien ohne Gedächtnis“ (Democrazie senza memoria) all die verschiedenen Ursachen des Demokratieverlustes und schlägt auch Lösungen vor, wie die Demokratie zu alter Hochform zurückkehren kann. Besonders ansprechend ist jedoch der Titel „Demokratien ohne Gedächtnis“ – ohne Gedächtnis sind die Demokratien laut Violante deshalb, weil die jungen Generationen, die nach dem Wendejahr 1989 geboren wurden, keinen wirklichen Sinn mehr im Kampf für demokratische Grundwerte sehen. Das Ende des Kommunismus und der Zusammenbruch der bipolaren Welt hat einen scheinbaren Siegeszug der Demokratie bedeutet und es schien als gäbe es keine Gefahr mehr für sie. Heute jedoch ist die Demokratie in großer Gefahr, wie eben genau die Tendenzen nicht nur in Europa, sondern weltweit zeigen.
Violante sieht den Schlüssel zu mehr Demokratieverständnis in einer Rückbesinnung auf das Gedächtnis der Demokratie, indem man sich wieder daran erinnert, was denn überhaupt Demokratie bedeutet, d.h. vor allem eine stärkere Beteiligung der Gesellschaft an gesellschaftspolitischen Prozessen. Statt zu jammern muss die Gesellschaft aufwachen, aktiv werden und sich beteiligen. Demokratie bedeutet nicht nur alle vier Jahre wählen zu gehen, sondern sich kontinuierlich an den politischen Prozessen zu beteiligen. Es bedeutet jedoch ein generelles Umdenken in den Menschen, dass Veränderung von JEDEN einzelnen ausgehen muss.
Man kann nicht darauf warten, dass die Politik die notwendigen Impulse gibt, sondern WIR müssen der Politik die Impulse geben. Ein zentraler Schlüssel ist es, die negative Energie, die im alltäglichen Jammern entsteht in positive Energie umzuwandeln sprich Pessimismus in Optimismus umformen. In einer demokratischen Gesellschaft beschweren sich die Bürger nicht jahrelang, wieso denn eine Straße nicht saniert wird, sondern erreichen durch Bürgerbeteiligung und kontinuierlichen Protest bei der Gemeinde eine schnellere Renovierung eben dieser Straße. Auf der Universität fordern Studenten ihre Professoren heraus kritisch auch neue Theorien zu diskutieren und lassen sich nicht bloß von ihren Professoren berieseln. Bürger beteiligen sich freiwillig und gerne an Diskussionen und argumentieren sachlich aufbauend auf Fakten über aktuelle Themen. Man beteiligt sich an Veranstaltungen, Demonstrationen und sucht den Kontakt mit den Politikern, um konkret aufzuzeigen, wo man ein Einschreiten der Politik erwartet. Dabei werden Politiker nicht mehr als abgehobene Kaste angesehen, sondern als eine angesehene Berufsgruppe, die für das Gemeinwohl tätig ist – und wo Bürger UND Politiker gemeinsam die Politik prägen.
Das klingt nach Utopie? Derzeit ja, aber es braucht eine radikale Kursänderung, die im Bildungssystem beginnen muss. Das Ziel des Bildungssystems sollte nicht nur sein, dass am Ende der Schulzeit Absolventen ein gutes Allgemeinwissen aufweisen, sondern, dass sie dieses Wissen auch kritisch hinterfragen und gezielt anwenden können. Gezieltes Training von Diskussionstaktiken, Politische Bildung und eine Stärkung der geisteswissenschaftlichen Fächer könnten hier ein Schritt in die richtige Richtung sein. Es muss selbstverständlich sein, dass im Schulalltag stärker auch über Politik debattiert wird und nicht nur vor Wahlen.
Nur kritische Bürger können auch kritisch das demokratiepolitische Geschehen kommentieren. Ein effizienteres Bildungssystem, indem kritisches Denken, Argumentation und Diskussion im Fokus stehen stärkt die Demokratiesysteme nachhaltig, weil sie es den populistischen Bewegungen schwerer machen an Stimmen zu kommen. Die Gesellschaft selbst bestimmt mit, was um sie passiert.
Mit mehr Demokratieverständnis im kollektiven Gedächtnis entsteht automatisch ein checks und balances System, das es nicht nur autoritären Parteien und Regierungen äußerst schwer macht, Geschichtsverfälschung und Demokratieabbau zu betreiben, sondern es entsteht eine aktive und offene Gesellschaft, in der Vielfalt und Offenheit fest verankert sind. All dies stellt die besten Vorrausetzungen da, um die negativen Aspekte der Globalisierung gemeinsam abzufedern, um so auch die größten Pessimisten in glühende Optimisten zu verwandeln. Es liegt an uns allen den ersten Schritt zu machen – geben wir der Demokratie neuen Schwung, indem wir aktiv werden in der Gesellschaft, unsere Politiker, Lehrer und Professoren herausfordern, und durch sachliche Diskussion und Beteiligung optimistisch an unserer Zukunft arbeiten, um das größte Gut, das wir besitzen zu beschützen: Die Freiheit.
Literatur:
Luciano Violante, Democrazie senza memoria, Einaudi, Torino, 2017. 12 €
Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, C.H. Beck, München, 2014