09. November 1989, 09. November 1938: Quo vadis, Europa? Freiheit oder Hass?

Als in der Nacht des 9. November 1989, exakt vor 26 Jahren, die Grenzpolizei der DDR den Druck der tausenden Ausreisewilligen nachgab und die Tore öffnete, beendete dieser Schritt das „kurze 20. Jahrhundert“, wie der Historiker Eric Hobsbawm die Zeit von 1914 bis 1989 formulierte. Jubelende Menschen, die tanzend im einstigen Todesstreifen stehen und die Nacht zum Tag machten: Die Bilder von 1989 wirken bis heute nach. Dennoch erinnert sich 26 Jahre danach im allgemeinen Diskurs kaum wer an dieses wichtige Ereignis für Europa. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Europa derzeit gerade selbst am Mauer bauen ist. Auch dem zweiten, wichtigen Gedenktag wird dieses Jahr wenig Aufmerksamkeit gewidmet: Am 09. November 1938, vor 77 Jahren, begann die systematische Vernichtung der Juden in Europa durch die November-Pogrome. Das Europa des Jahres 2015 verkauft seine eigenen Werte und ist 1938 erschreckend nahe, näher auf jeden Fall als 1989.

Europa – allein in diesem Wort schweben viele Assoziationen mit dem Wort „Freiheit“ mit. Hier fand die Französische Revolution statt, hier fielen die Berliner Mauer und der gesamte Eiserne Vorhang zusammen. Europa – das bedeutet jedoch auch viel Leid, was vor allem im 20. Jahrhundert über die ganze Welt gebracht wurde – der Erste und der Zweite Weltkrieg gingen von diesem Kontinent aus. Ganz so schien es, als habe dieses Europa sich eher der Freiheit als dem Leid zugewendet – zumindest für viele Jahrzehnte. Nach 1989 erfolge in rasendem Tempo die Wiedervereinigung Europas unter Federführung der Europäischen Union. Die Kernidee der EU und ihrer Gründerväter – Nie wieder Krieg! – wird zwar heute von vielen als „Schönwettergerede“ abgetan, verhinderte innerhalb der EU jedoch bislang jegliche Form von militärischer Auseinandersetzung zwischen Mitgliedsstaaten. Die Botschaft war klar: So etwas wie der Zweite Weltkrieg und eben auch am 09. November 1938 sollte in Europa nicht mehr passieren.

Diese Grundidee wurde in den nächsten 20 Jahren in rasend schnellen Tempo um zahlreiche Aspekte erweitert – von der Gemeinschaftswährung bis zur endgültigen Abschaffung der Binnengrenzen reicht die Palette, die Ost und West  in den vergangenen Jahren zusammenbrachte.

Doch dann kam 2015. Das Jahr der Flüchtlinge. Es zeigte sich, dass das Projekt EU nur solange gut funktionierte, so lang es keine Probleme gab. Diese „Schönwetter“-EU schaut der Flüchtlingskrise etwas ohnmächtig entgegen und nur langsam kommt Bewegung in die Verhandlungen. Doch die EU ist nicht mehr die, die es am 01. Januar 2015 war. Das Schengener Abkommen – eines der Herzstücke der Europäischen Union – ist quasi außer Kraft gesetzt und es ist auch kein Ende für diese Ausnahmesituation in Sicht. Ost und West haben sich wieder deutlich voneinander entfernt. Die osteuropäischen Länder weigern sich Flüchtlinge aufzunehmen. Nicht betroffene Länder halten sich formidabel aus der Angelegenheit heraus. In Ungarn errichtet Orban einen „Eisernen Vorhang 2.0“ und in ganz Europa schießen Parteien aus dem Boden, die eine „einfache, schnelle Lösung“ fordern. Hier sind wir wieder beim 09. November 1938 – damals stürzten scheinbar „einfache und schnelle Lösungen“ den Kontinent in das wohl dunkelste Kapitel seiner Geschichte. Hass und Brutalität angefacht durch eine autoritäre Regierung sorgten für Millionen Tote weltweit.

Natürlich kann man argumentieren, dass Europa heute meilenweit davon entfernt sei. Doch auch wenn wir noch weit entfernt sind von 1938 gibt es genug Tendenzen, die erschreckende Parallelen zu den 1930er Jahre aufweisen: Ob es die vermeintliche „Lügenpresse“ sei oder die Hasskommentare in sozialen Netzwerken oder „bedauerliche Einzelfälle“ antisemitischer Äußerungen bei einer bestimmten Partei. Oder die Sympathie breiter Bevölkerungsschichten mit autoritären Regierungen wie Orban oder Putin – ausgelöst durch einen tiefen Vertrauensbruch mit den „etablierten Regierungen“. Es sind deutliche Zeichen, die man nicht übersehen darf oder als „Schwarzmalerei“ abtun darf.

Parallel zum Abdriften der Bevölkerung hin zu „einfachen und autoritären“ Lösungen findet derzeit ein Ausverkauf der europäischen Werte – eben vor allem der Freiheit – statt. An 1989 denkt heute lieber niemand der Spitzenpolitiker – es würde einen wohl sauer aufstoßen, dass man 26 Jahre nach dem Öffnen der Berliner Mauer wieder Zäune als wirksames Mittel sieht, Migrationsströme von Menschen zu unterbinden. Innenministerin Mickl-Leitner findet „einen Zaun nichts Schlechtes“ und will auch weiterhin an der „Festung Europa“ bauen lassen.

Ungarns Orban hat vergessen, dass sein Land 1989 einen wichtigen Impuls zum Abbau jenes Zaunes gesetzt hat, der seine Landsleute jahrzehntelang hermetisch vom „Klassenfeind“ abriegelte – mit Schießbefehlen, Minen und dutzenden Toten. Vergessen das Paneuropäische Picknick an der burgenländisch-ungarischen Grenze, wo tausende DDR-Bürger ihren Regime „Good Bye“ sagten. Stattdessen kann sich Heinz Christian Strache vorstellen, dass es auch einen Schießbefehl geben könnte. Orban lässt bei einem „illegalen Grenzübertritt“ die Leute zumindest festnehmen – schießen lassen will er (noch) nicht.

Freiheit, Grenzenlosigkeit – diese zentralen Eckpfeiler Europas werden derzeit wie im Abverkauf angeboten. Europa verkauft die Werte, die es jahrelang so in die Höhe gehoben hat. Der in der Geschichte einmalige Zusammenschluss von souveränen Staaten zu einer supranationalen Ebene, der sie freiwillig Macht abgeben – zur Erhaltung des Friedens und zur Erhöhung von wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Chancen und Möglichkeiten – funktioniert derzeit so gut wie gar nicht. Und obwohl Tag aus, Tag ein der Hass wächst und Europa immer mehr abdriftet in seine dunkle Vergangenheit, tut sich einfach nichts. Ein Gipfeltreffen jagt das nächste ohne dass es wesentlich zu handfesten Verhandlungsergebnissen kommt.

Es steht schon schlimm um Europa, aber es ist jetzt an der Zeit einerseits wieder zu den Werten zu stehen, die von der Französischen Revolution und im Jahre 1989 in Ostmitteleuropa von Europa in die Welt geschickt wurden und anderseits endlich  nach dem Solidaritätsprinzip, dem alle Staaten bei Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrages zugestimmte haben, zusammenzuarbeiten. Die junge Generation, die mit der EU aufgewachsen ist und nur diese kennt, verdient es, dass an diesem einzigartigen Projekt der Weltgeschichte weitergearbeitet wird – trotz Konstruktionsfehler. Vor allem muss die grenzüberschreitende Flüchtlingskrise gemeinsam gelöst werden – Egoismus und Nationalismus dürfen nicht nachgegeben werden und entsprechend europäischen Werten sollte eine vernünftige Lösung für alle Mitgliedsstaaten gefunden werden. Noch viel schwieriger wird es werden die breite europäische Masse wieder für die EU und für Rechtsstaatlichkeit zu begeistern und sie vom – vermeintlich einfacheren – autoritären Weg wieder wegzubringen.

Es steht sehr schlecht um Europa, aber es gibt kaum einen anderen Weg für diesen Kontinent. Die Überalterung schreitet fort, Innovationen kommen oft mehr aus den aufstrebenden Schwellenländern statt aus Europa und die „alte Dame“ leidet erst recht unter der Uneinigkeit ihrer vielen Länder. Schafft Europa nicht sich zusammenzuraufen, wird dieser „Wollknäuel“ vielleicht bald die Peripherie der Welt darstellen.

Europa, das ist das Europa der zwei Weltkriege, des Hasses, des Nationalismus und des Genozides, aber Europa, das ist auch das Europa der Freiheit und der Demokratie. Wir sollten versuchen wieder den Weg zurück zu 1989 statt zu 1938 zu finden und der Welt ein Beispiel für Demokratie und Freiheit sein: „Wir schaffen das“

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