1914.1939.1989.2014 = Vier Jahreszahlen mit Symbolik
Am 01.09.2014 war es genau 75 Jahre her, dass Hitler-Deutschland in Polen einmarschiert ist und damit den Startschuss für den bisher schlimmsten Krieg in der Geschichte der Welt geliefert hat. Es dauerte exakt 50 Jahre – bis zum Jahr 1989 – bis Europa sich von diesem großen Krieg endgültig befreien konnte und die Nachkriegsordnung aufbrach. Seit 1989 sind nun 25 Jahre vergangen, seit 1939 75 Jahre – aber doch stehen die Zeichen in vieler Weise wieder auf Krieg – 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der quasi der Vorläufer des Zweiten Weltkrieges darstellte, gibt es erschreckende Parallelen zwischen all diesen Jahreszahlen und dem Jahr 2014. Aber stehen die Zeichen wirklich auf Krieg? Hat die Menschheit nichts gelernt? Noch gibt es aber genügend Hoffnung, den Frieden zu wahren. Aber die Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung wächst.
Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann prägte vor über 30 Jahre folgendes Zitat: „Die Geschichte lehrt ständig – aber sie findet keine Schüler“. Ich muss oft an dieses Zitat denken, insbesondere wenn ich mir die Kommentare von Online-Foren, Kommentare zu Artikeln oder Debatte-Foren wie „orf.at“ durchlese. Seit der Konflikt in der Ukraine voll entbrannt ist gibt es eine klare Trennung von sogenannten „Putin-Verstehern“ und solchen, die die Politik Putins komplett ablehnen. Rein vom subjektiven Eindruck überwiegen die „Putin-Versteher“, die partout in der Regierung der Ukraine eine „faschistische, durch Putsch an die Macht gekommene Regierung“ sehen, unterstützt von einer „nach Macht und Reichtum strebenden EU, die sowieso nur eine Marionette der USA ist“. Begrüßt hingegen werden Schritte von Putin und dem offiziellen Russland, einige wenige Stimmen unterstützen sogar die Rebellen in der Ostukraine. 1:1 übernehmen kann man diese Auffassungen auch auf andere Krisengebiete in unmittelbarer Nähe zu Europa: Palästina etwa. Im Netz gab es zuletzt deutliche Sympathisierungskampagnen für die Palästinenser, die inhaltlich ziemlich am Problem vorbeischossen.
Bei beiden Konflikten kann man in Europa sehr besorgniserregende Parallelen erkennen: Bewohner eines eigentlich rechtlich relativ freien Staates fühlen sich von ihrem eigenen Staat, ihrer eigenen Organisation, immer mehr enttäuscht, sie entfernen sich sogar deutlich von dieser.. Die „westlichen Medien“ werden generell als „falsch, zensiert und zentral gesteuert“ hingestellt, die EU – schon in der Vergangenheit der Sündenbock par excellence – wird wieder für alle Probleme, die derzeit so weltweit stattfinden an den Pranger geführt – zusammen mit der USA, von der die EU nur eine komplett organisierte „Marionette“ sei. Einzelne User äußern noch deutlich extremere Vergleiche, die EU sei gar eine „EUdssR“ (also eine Art EU-Sowjetunion), Medienfreiheit existiere nicht, die EU „diktiere von oben“, wolle eine „Einheitsmeinung“ schaffen und so weiter. Was bringt die Einwohner eines Landes dazu, sich so von ihrer politischen Elite abzuwenden und eindeutig nicht demokratische Regierungen und Länder zu bevorzugen? Es ist diese gefährliche Stimmung, die derzeit in Europa gärt und die in gewisser Weise auch an die 1930er Jahre erinnert.
Die 1930er Jahre waren geprägt von Arbeitslosigkeit und einer großen Weltwirtschaftskrise – Zutaten, die später Hitlers Aufstieg an die Macht beschleunigt haben. Auch die Jahre nach 2009 sind geprägt von einer gewissen Krisenstimmung, die sich mal mehr, mal weniger auch auf die Realwirtschaft und damit auf uns alle auswirkt. Ein wichtiger Grundsatz von Krisen lautet: Je schlechter als den Menschen geht, desto eher suchen sie nach Sündenböcken. Es ist die Psychologie des Menschen – anstatt die Schuld bei sich selbst zu suchen oder zu versuchen, die Probleme gesamt zu sehen, versuchen alle andere – eine Bevölkerungsgruppe, eine Organisation – für die gesamten Missstände verantwortlich zu machen. So erklärt sich der Höhenflug rechter Parteien, die immer wieder mit dem klassischen Feindbild „Ausländer“ auf Stimmenfang gehen.
Doch dieses Mal stellen viele Menschen in Europa gar eine politische Ordnung, ein europäisches Projekt infrage. Es ist nahezu grotesk, dass Menschen heutzutage die EU als „Schuldigen“ für Kriege erklären wollen, sie als „Brandstifter“ in der Ukraine sehen wollen. Denn 1945 – als Europa nach Jahren des Krieges in Schutt und Asche lag – dachten sich einige kluge Männer, darunter der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Außenminister Robert Schuman, dass es mit diesem ständigen Krieg doch einmal vorbei sein müsste. Sie gründeten die EGKS – die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, denn: Wird die Produktion von Kohle und Stahl zentral überwacht, dann gibt es als logische Schlussfolgerung auch keinen Krieg.
In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich die EU von einem losen Staatenbund zu einer überstaatlichen Organisation mit vielen, wichtigen Funktionen und Aufgaben. Obwohl man die EU als ein Erfolgsprojekt ansehen kann – 28 Staaten, die trotz unterschiedlicher Sprache, Kultur, Identität in wichtigen Fragen mehr oder weniger erfolgreich zusammenarbeiten – ist die Zustimmung in der Bevölkerung sehr niedrig. Einige User dieser Debatte-Foren würden die „EU am liebsten sofort zerstört“ wissen, weil sie ja „soviel Unsinn produziere und nur Kosten verursache“.
Es ist schade, wieviel Leute die Symbolik und die Bedeutung einer Staatenorganisation wie der EU immer noch nicht verstanden haben. Billiger Boulevardjournalismus allà „Kronen Zeitung“ oder „Bild Zeitung“ gepaart mit rechten Parteien, die mit den „Ausland“ und „Ausländer“ immer noch viele Stimmen gut machen, tragen dazu bei, dass die Bewohner Europas etwas fundamentales nicht verstanden haben: Frieden wird gesichert durch intensive politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit auf allen Ebenen über Staatsgrenzen hinaus. Kennt man den Nachbar, andere Staaten, andere Nationen, dann sinkt die Gefahr, dass es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt.
Obwohl die EU immer mehr Aufgaben und Kompetenzen erhalten hat, sprechen viele Leute immer noch von „der EU da oben“. Hier ist es wichtig klarzustellen: Die EU – das sind wir. Das sind 505 Millionen Einwohner, die auf einen geschichtsträchtigen Kontinent leben, der wie kein anderer von Kriegen jahrhundertelang durchzogen war und es letztendlich mühsam – als alles bereits in Schutt und Asche war – geschafft hat, sich zu einer Zusammenarbeit durchzuringen, die genau solch einen grauenhaften Krieg verhindern soll. Kein Gesetz, keine Abstimmung über außenpolitische Entscheidungen, erfolgt ohne die Zustimmung aller Regierungschefs (bzw. ihrer Minister), die durch die jeweilige Bevölkerung gewählt werden. Zusätzlich muss jedes Gesetz durch das Parlament – das ebenfalls bei der EU-Wahl durch die Bevölkerung gewählt wird – mit beschlossen werden, damit es gültig wird. Die gesamte Organisation der EU beruht also auf demokratischen Vorgängen – trotz allem ist die EU noch zu weit weg von der Bevölkerung, auch weil das Projekt engagierte Bürger benötigt, die sich an Wahlen beteiligen, die Bürgerinitiativen gründen und etwas über den Tellerrand ihres eigenes Landes blicken.
In gewisser Weise spiegelt sich in den Kommentaren und Einträgen in Online-Foren also so etwas wie das Verlangen der „EU und der USA mal so richtig eins auszuwischen“ mit ein. Gleichzeitig verkennen viele Menschen jedoch, dass das Russland unter Putin kein freier Staat nach demokratischen Maßstäben ist. Freie Wahlen? Fehlanzeige. Russland heute nähert sich in vielen Formen wieder einem totalitären Regime an, wie es die Sowjetunion war, an. In diesem Zusammenhang ist auch die Lust Putins an Einfluss in den angrenzenden Ländern zu sehen, einer Art „imperialistischer Re-Sowjetpolitik“. Putin träumt von einer Wiederaufstehung der Sowjetunion. Innenpolitisch ist Russland bereits weit entfernt von einem demokratischen, freien Staat: Zensur, keine Opposition, eine Partei, freie Meinungsfreiheit nicht existent.
Wieso finden genau dieses System dann so viele Personen in West- und Mitteleuropa erstrebenswert an? Jene Menschen, die in einem relativ freien, demokratisch regierten Land leben?
Einerseits ist es der Wunsch der Menschen nach einem „großen Führer“, andererseits ist es das „Schwarz/Weiß“-Denken, das für viele Menschen die Beantwortung großer, komplexer, politscher und ökonomischer Fragen ersparen soll. Viele Menschen sehnen sich nach „einem starken Mann“ an der Spitze des Staates, der schnell und einfach Antworten finden soll. Mit einem komplizierten, langwierigen System, das auch Eigeninitiative mit sich bringt, wollen sie gar nichts zu tun haben.
Demokratie braucht Zeit. Demokratie braucht Kompromisse. Demokratie braucht die Mitarbeit von allen Menschen.
Viele Leute finden in autoritären System scheinbar alles was sie wollen: Starke Führungspersönlichkeiten, die schnell und einfach entscheiden – ohne lästige Organe, wie ein Parlament oder eine Kommission, die langwierige und komplizierte Lösungen erarbeiten, die sie nicht verstehen, weil sie sich nicht die Zeit nehmen, zu hinterfragen, wieso ein Gesetz zustande gekommen ist. Sie verkennen dabei leider, dass sie das Wichtigste, was ein Mensch überhaupt hat, mit an „die starken Führer“, die an alles denken, abgeben: Die Freiheit.
Es ist jene Freiheit, die 25 Jahre zuvor, im Sommer 1989, zahlreiche DDR-Bürger dazu veranlasst hat, alles zurückzulassen und über Grenzen, über die noch immer der Schießbefehl galt, nach Österreich – und dann weiter nach Westdeutschland – zu fliehen. Es ist dieses Gefühl nach Freiheit, das Gefühl ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, was die Bürger von Osteuropa im Jahre 1989 dazu veranlasst hat, nach über 40 Jahre die kommunistischen Regime, die sich nur durch den Gutwillen Moskaus an der Macht halten konnten, zu stürzen. Diese Menschen in Osteuropa sind die wahren Helden des 20. Jahrhunderts. Denn sie haben sich mühevoll ihr Recht auf ein freies Leben erkämpft. Leute, wie Alexander Dubček, der bereits 1968 seinen Volk der Tschechoslowakei, diese Freiheit geben wollte und eine Welle eines „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ in Osteuropa auslöste, die von Russland mit Panzern niedergerollt wurde. Doch egal ob in der Tschechoslowakei, in der DDR, in Polen oder in Ungarn – der Wille nach Freiheit wächst in jeden Menschen Tag für Tag – und dringt irgendwann nach außen und sprengt alle Grenzen. So war es 1989 – als über 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das System zusammenbrach, die DDR ihre „Wende“ und die Tschechoslowakei die „Samtene Revolution“ erlebte und Dubček spät aber doch noch seinen Lebenstraum verwirklichen konnte.
1989 war für mich aufgrund dieser Tatsache das wichtigste Jahr des 20. Jahrhunderts. Nicht 1914 – der Beginn des Ersten Weltkrieges, wo tausende junge Männer kriegsbegeistert in die Schlacht zogen – und als Invaliden zurückkehrten. Nicht 1939 – als Hitler seine Pläne von einem „Großdeutschen Reich“ in die Tat umsetzte und zuerst Polen und später Europa und die Welt in einen grauenhaften Vernichtungskrieg stürzte, der Millionen von Menschen das Leben kostete. 1989 war das Jahr, das zählte. Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen, die auf einen Stück Land gemeinsam feierten, das zuvor noch Todeszone darstellte, die Grenzen überwindeten, sich die Meinungsfreiheit erkämpften. 2014 nehmen viele in Europa dieses Recht auf Freiheit schon zu locker, sie übersehen dabei wie schnell es wieder weg sein kann.
Trotz aller Probleme, die ein gemeinsames Europa mit sich bringen, haben wir das Privileg auf einen Kontinent zu leben, in dem jeder Mensch in Freiheit leben kann, in der Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit von allen in der Verfassung eingemeißelt sind. Wir können auf Jahrhunderte voller Krieg und den daraus resultierenden Folgen lernen, zurückblicken und dieses Wissen nutzen, um zukünftig Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Aber Demokratie ist nicht einfach, sie erfordert die Mitarbeit von uns alle. Sie erfordert Vertrauen in die Politik, Vertrauen in politisch gewählte Organe und vor allem: Hoffnung auf eine gute Zukunft. Wenn wir die Hoffnung nicht haben, dann haben wir nichts. Sowie die Menschen 1989: Sie hatten viel zu verlieren – bei Scheitern des Umsturzes hätten jahrelange Gefängnisstrafen gedroht – aber sie haben die Gelegenheit ergriffen, die Freiheit endlich auch in ihren Land einzuführen.
Heute leben wir auf einen Kontinent, in dem sich junge Menschen aus verschiedenen Ländern tagtäglich treffen, miteinander kommunizieren, gemeinsam Reisen unternehmen. Der Enkel eines italienischen Soldaten, der im Ersten Weltkrieg gegen Österreich gekämpft hat, hat nun einen besten Freund in Österreich, Franzosen und Deutsche, die jahrhundertelang sich gegenseitig bekämpften, fahren über offene Grenzen zum Tanken und Einkaufen, zahlen in der selben Währung, kommunizieren und leben miteinander.
Die europäischen Spitzenpolitiker haben keinen Konflikt in der Ukraine „angezettelt“. Ich bin überzeugt davon, dass die EU (und damit wir alle) alles Mögliche in die Hände nimmt, um eine friedliche Lösung des Konfliktes zu erreichen. Denn nach all den Kriegen sollten wir in Europa verstanden haben, dass mit Waffen nur mehr Elend verursacht wird. Für uns, für die Bürger der Europäischen Union, heißt es aber vor allem: Nachdenken, über die Rechte, die wir in dieser EU haben, über den Sonderstatus, den wir – verglichen mit anderen Kontinenten – haben.
Wichtige, große Projekte wie die EU brauchen viel Arbeit, viel Zeit und vor allem auch viel Hoffnung und Glauben – Glauben, dass am Ende alles besser wird. Nur so können wir die europäischen Prinzipien – Freiheit, freie Meinungs- und Pressefreiheit, Säkularisierung, Gewaltentrennung – in die Welt hinaustragen und so beitragen, dass die Konflikte in dieser Welt weniger werden.
„Die Geschichte lehrt ständig – aber sie findet keine Schüler“- vielleicht könnten die Europäer die ersten sein, die sich von ihr belehren lassen? Die Voraussetzungen wären da. 2014 sollte sich ein Vorbild an 1989 nehmen – und nicht an 1939 und 1914.