1989: Grenzgänger – Europa überwindet seine Grenzen

1989: Grenzgänger – Europa überwindet seine Grenzen

Im März 1989 hätte wohl niemand auch nur in seinen kühnsten Träumen daran gedacht, dass 25 Jahre später Billigfluglinien Passagiere für 25 Euro von Paris, London oder Venedig nach Warschau, Vilnius oder Budapest bringen, dass abertausende Touristen jährlich die „Goldene Stadt“ besuchen und das in Bratislava mit selbiger Währung wie in Wien gezahlt werden kann.

Europa hat seine Teilung überwunden, alte Grenzen existieren nicht mehr und menschenverachtende stalinistische Regime gehören in Europa der Vergangenheit an. Die Grundlage all der Entwicklungen der letzten Jahre, die nicht nur von einer Europäischen Union, sondern auch von jedem Erasmus-Studenten, den Billigfluglinien, den Busunternehmen oder sogar der polnischen Putzfrau mitgestaltet wurden, liegt im „Wunderjahr“ 1989. In einer Reihe friedlicher Revolution brach Europas Nachkriegsordnung in sich zusammen und gab den Menschen etwas, das sie über 40 Jahre vermissten: Freiheit. 1989, so sagte ein Teilnehmer einer Demonstration in Dresden 1989, „sei ein Jahr, in dem die Realität die Phantasie überholt habe“.

1989 kann zu Recht als das Wichtigste Jahr Europas im letzten Jahrhundert gesehen werden, vieles war schlichtweg Zufall, aber es war eine der wenigen komplett ungeplanten Ereignisse der Geschichte, die vom Volk und nicht von Regierungen und Herrschenden ausgingen. Das Jahr 1989 hat Europa für immer verändert und wirkt mit seiner Präsenz bis heute im Einigungsvorhaben dieses Kontinents nach.

Ostmitteleuropa heute

Schlendert man heute über den Wenzelsplatz in Prag oder durch Budapest, dann sieht man neben hunderten von Touristen aus der ganzen Welt, die zwischen den alten Gebäuden aus der k.u.k Zeit die Auslagen der Geschäfte betrachten, auch viele Tschechen, viele Prager, die stolz durch ihr herausgeputztes Zentrum stolzieren, sich treffen oder eine der zahlreichen Ausstellungen, Konzerte und Veranstaltungen besuchen.  Tschechien, als ein Land, das eigentlich mehr in Zentraleuropa als in Osteuropa liegt, mit seiner Hauptstadt Prag hat wieder den Anschluss zu Europa gefunden, besser gesagt zu Westeuropa, von dem es lange Zeit durch den Eisernen Vorhang getrennt war. Geht man durch die Pariser Straße sieht man einen Luxusladen nach dem anderen – Gucci, Armadi einer, nach dem anderen. Und ja, man fühlt sich auch ein wenig wie in Paris.

Eine Weltstadt von Rang wie das ferne Paris, das war Prag früher, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Doch nach der Machtergreifung der Kommunisten wanderte Prag genauso wie Bratislava und Warschau hinter den Eisernen Vorhang, der alle Verbindungen nach Westeuropa für viele Jahre kappte. 25 Jahre nach der Wende ist Prag genauso wie all die anderen Städte in Ostmitteleuropa wieder dort angekommen, wo sie Ende des 19. Jahrhunderts waren: Pulsierende Zentren eines neuen Europas, Wirtschafts- und soziale Zentren, die Jahr für Jahr die Misere von 40 Jahre Planwirtschaft langsam abbauen. Tschechiens jüngere Geschichte, 40 Jahre unter kommunistischer Führung, liegen hier nur versteckt in einem Kommunistischen Museum, dass sich unweit des Wenzelplatz befindet, genau dort, wo 25 Jahre zuvor ein neu erwachtes, selbstbewusstes Volk innerhalb kurzer Zeit eine ganze Staatsmacht nur durch schlichte Proteste und Demonstrationen zu Fall brachte.

 

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Die “Goldene Stadt” Prag – heute wieder im Zentrum Europas

1989 – „The Wind of change“

Oft hört man, 1989 sei ein Jahr gewesen, dass so passieren musste. Es sei kein Wunder gewesen, angesichts der Tatsache, dass Ende der 1980er Jahre nahezu alle Satellitenstaaten der Sowjetunion in Ostmitteleuropa nahe der Zahlungsunfähigkeit standen. Zusätzlich machte Gorbacev mit seiner „Perestroika“ und „Glasnost“ Politik und der Aufgabe der Breschnew-Doktrin den Weg frei, dass die Länder des Warschauer Paktes selbst entscheiden können, wie ihre Zukunft aussehen soll.

Doch rückblickend war es schlichtweg ein Wunder, in welch gewaltigen Tempo und wie friedlich diese Umwälzungen abgelaufen sind. 1989 ist einzigartig in der Geschichte und das wohl schönste Jahr in Europas jüngster Geschichte; den Mut vieler Menschen in Ostmitteleuropa und einer günstigen politischen Lage verdankt dieser Kontinent sein heutiges Gesicht.

Als Gorbacev 1985 auf Konstantin Tschernenko als neuer Parteichef der KPdSU folgte, glaubte wohl keiner, dass Gorbacev der letzte Präsident der Sowjetunion sein wird. Die Sowjetunion war das größte Land der Welt, lag mit den USA seit Jahrzehnten im Kalten Krieg und war eine der beiden „Supermächte“ des 20. Jahrhunderts. Gorbacev Vorgänger Stalin, Chruschtschow und Breschnew hatten die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten in Osteuropa stark gemacht. Doch seit der Zeit Breschnew verfiel die Sowjetunion in eine Lethargie, die sich in immer maroderen Staatsfinanzen – auch bedingt durch den Rüstungslauf mit der USA – zeigte und durch die ineffiziente Planwirtschaft zu enormen wirtschaftlichen Problemen führte.

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Gorbacev machte mit seiner Politik 1989 möglich

Gorbacev erkannte die Zeichen der Zeit und reagierte. Mit „Glasnost“ und „Perestroika“ wollte er die Sowjetunion umbauen, sie modernisieren und die Probleme lösen. Eine neue Aufbruchsstimmung setzte in der UdSSR ein, die jedoch nur teilweise bis in ihre Verbündeten Staaten direkt an der Grenze zum kapitalistischen Ausland durchdrang. Diese Staaten, die Deutsche Demokratische Republik, die Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn und Polen steckten seit Jahren in einer Krise. Die Wirtschaft schwächelte, die Versorgung wurde immer schwerer. Alle Staaten wurden von greisen und alten Männern regiert, die alle samt seit der Anfangszeit des Kommunismus in Europa aktiv waren. Sie hatten auf Gutdünken der Sowjetunion eine stalinistische Diktatur errichtet, die vor allem auf Überwachung, Einschüchterung und einem Einparteiensystem bestand. Kommunismus implizierte Diktatur. Entlang der Grenze zum benachbarten kapitalistischen Ausland wurde der „Eisernere Vorhang“ errichtet, von der Ostsee bis nach Ungarn und Rumänien zog sich eine unüberwindbare Grenze entlang, die durch Selbstschussanlagen, Überwachungstürmen und meterhohen Zäunen ausgestattet war.

Diese Anlagen waren bitternötig, um das eigene Volk nicht zu verlieren. Nach anfänglicher Begeisterung für die „Befreier“ vom Nationalsozialismus schlug die Stimmung in der Bevölkerung in den 1950er Jahren schlagartig um, es kam zum Aufstand in der DDR 1953, als man die Arbeitsnormen erhöhen wollte. Auch in Polen und in Ungarn 1956 wollte man das mittlerweile verhasste Regime wieder loswerden. Doch die Antwort kam stets mit Militärgewalt aus Moskau: Die Vasallenstaaten wurden durch eine militärische Intervention des „großen Bruders“ gerettet. Zuletzt versuchten es die Tschechen 1968 („Prager Frühling“) unter Alexander Dubček einen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ zu kreieren – doch auch dieser Versuch wurde durch Panzer brutal niedergeschmettert.

Es folgte der Bau der Berliner Mauer, die Hochrüstung des „Eisernen Vorhangs“ zu einer Todeszone und die sogenannte „Normalisierung“. Regimefreundliche Politiker ersetzten die „Aufmüpfigen“. Das nun eingesperrte Volk verfiel in eine Lethargie, in einen Schockzustand. Insbesondere in der Tschechoslowakei und in der DDR resignierte man, fand sich mit dem Status Quo ab.

Der Westen selbst hielt sich aus den inneren Angelegenheiten der Staaten des Warschauer Paktes heraus. Jede Einmischung könnte zur Eskalation und damit zum Dritten Weltkrieg führen. Obwohl die DDR mit Millionenkrediten aus der Bundesrepublik gerettet wurde, akzeptierte man irgendwie die Situation. Sowohl im Osten als im Westen fand man in den 1970er und in den 1980er Jahren sich mit der Lage ab. Die Teilung Europas schien für immer festzustehen, eingemeißelt in Stein für die Ewigkeit. Erich Hohnecker, von 1971 bis 1989 Staatsratsvorsitzender und damit quasi Alleinherrscher der DDR, sprach 1989 davon, dass „die Mauer auch noch in 50 und auch noch in 100 Jahren bestehen bleiben wird“.

Doch man kann ein Volk nicht wie Vieh einsperren. Die Freiheit, die tief in jeden Menschen vorhanden ist, stößt irgendwann nach außen und sprengt alle Grenzen. So war es auch 1989, als die „Realität die Phantasie überholte“.

Heißer Herbst 1989

Neue interne Dokumente aus dem Kreml lassen jene entscheidenden Monate des Jahres 1989 nachvollziehen und sie zeigen, dass man die wirtschaftliche Misere voll erkannt hat. Gorbacev wusste, dass der DDR und anderen Staaten nur mehr wenige Jahre blieben, gäbe es nicht tiefgreifende Änderungen.

Bereits vor 1989 gab es jedoch erste Signale, die vom Westen kaum wahrgenommen wurden. In Polen wurde Lech Walesas „Solidarnosc“-Gewerkschaft immer beliebter und Streiks lähmten das Land. Gleichzeitig war Polen wirtschaftlich am Ende. General Jaruzelski rief einen „Runden Tisch“ ein und es wurden Wahlen vereinbart. Diese wurden von Nicht-Kommunisten gewonnen. Polens Kommunisten erwarteten die Niederschlagung nach Vorbild 1968 – doch aus Moskau kam ein „Njet“. Gorbacev wollte unter allen Umständen ein 1968 oder ein 1953 verhindern. Neue Zeiten in Moskau.

In Ungarn gab es bereits vorher den „Gulaschkommunismus“, doch ab 1989 nahm der Demokratisierungsprozess gewaltig zu. Ungarn konnten ab 1988 weltweit ausreisen. Ungarns Kommunisten dachten sich also: Wozu brauchen wir noch einen Eisernen Vorhang? Am 27. Juni 1989 durchschnitten der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Kollege Horn symbolisch den Eisernen Vorhang – das erste, kleine Loch im Eisernen Vorhang war entstanden.

Der deutschen Tagesschau war das nur eine Randnotiz wert. In Westeuropa verkannte man die Brisanz dieses Schrittes. Doch es reichte aus, dass die DDR Bürger ihren Ungarnurlaub nutzten, um dem Sozialismus „Tschüss“ zu sagen. Tausende verließen via der Botschaft in Prag und Budapest im Sommer und Herbst 1989 die DDR für immer.

Gorbacev hielt sich zurück. Bereits beim Gipfeltreffen der Warschauer Pakt Staaten hatte er angekündigt, dass die Breschnew-Doktrin (=ein Staat muss den anderen „Beistand“ helfen, sprich militärisch eingreifen) aufgegeben werden.

Nun geschah das „Wunder“ von 1989. Innerhalb weniger Wochen wurde der Funken der Unzufriedenheit, der in fast jeden Ostmitteleuropäer zu finden war, größer und stärker. Man wollte Paris oder Rom sehen. Man wollte keine Überwachung mehr. Man wollte freie Wahlen und keine Scheinwahlen. Auf Polen und auf Ungarn folgte die DDR. Erich Hohnecker war realitätsfern, erkannte nicht die Zeichen der Zeit. Er verkündete den „Sozialismus in den Farben der DDR“ und sagte, „Den Sozialismus hält weder Ochs noch Esel auf“. Sein Volk sah das anders und erwachte aus der Lethargie, es kam zu Massenprotesten.

Es strebte nach Freiheit und so kam es wie es kommen musste: Erich Hohnecker wurde „aus gesundheitlichen Gründen“ von seinem Amt entlassen und Egon Krenz folgte ihm nach. Die neue Regierung der DDR verlor jedoch immer mehr die Kontrolle über das Volk. Gorbacev hatte noch wenige Wochen zuvor, kryptisch formuliert, dass „Gefahren nur auf jene lauern, die nicht auf die Zeichen der Zeit reagieren“.

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Demostrationen in Berlin

Die Welle der Freiheit war nicht mehr aufzuhalten. Am 09. November 1989, genau vor 25 Jahren, war es dann soweit. Günther Schabowski verlas einen neuen Beschluss des Politbüros, dass „Reisen nach dem Ausland ohne Vorlage nun möglich sind“. Die Nachricht verbreite sich in Windeseile in Berlin und ein Volk, dass 40 Jahre geistig entmündigt war, eingesperrt und jeder Freiheit geraubt war, ergriff die Initiative. Die völlig überforderten Grenzbeamten gaben nach und öffneten die Berliner Mauer, DAS Symbol der Teilung Europas.

Menschen aus West- und Ostdeutschland feierten gemeinsam unterhalb des Brandenburgers Tor das Ende von über 40 Jahren Teilung. Das Unmögliche war möglich geworden. Der 09. November 1989 war eine der wenigen Momente in der Geschichte, in der die Macht vom Volk ausging. Sie nutze einen Fehler des alten Regimes aus und nutzte die Gunst der Stunde, die Freiheit zu entdecken. Anders als 1918 oder 1945 waren es nicht die Mächtigen der Welt, die die Geschichte geschrieben haben, sondern das Volk, dass den inneren Antrieb nach Freiheit gefolgt ist und so das schier unmögliche möglich gemacht hat.

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Vom Gefängnis in den Hradschin: Kometenhafter Aufstieg eines Bürgerrechtlers

Auch in der Tschechoslowakei folgte im November 1989 die „Samtene Revolution“. Nachdem das kommunistische Regime anfangs noch mit Polizeigewalt reagierte, erkannte es bald, dass ihre Zeit abgelaufen war. Die „Charta 77“ rund um Vaclav Havel, einen Literaten, der jahrelang verfolgt und in Hausarrest gestellt wurde, übernahm das Wort der Demonstrierenden. Alexander Dubcek, der Anführer des „Prager Frühlings“ von 1968 sprach gemeinsam mit Havel Ende 1989 in Prag am Wenzelplatz zu den Einwohnern von Prag: Die Diktatur ist zu Ende! Wenige Monate später war Vaclav Havel der neue Präsident der Tschechoslowakei – wenige Monate zuvor saß er noch im Gefängnis. Alexander Dubcek musste nach der Niederschlagung 1968 sein Dasein als Gärtner fristen. Er musste über 20 Jahre warten, bis seine Überzeugung und sein Mut sich bezahlt machen. Das Volk jubelte den einstigen Parteichef der Kommunistischen Partei zu und auch er wird wenige Monate später zum Parlamentsvorsitzenden des ersten frei gewählten Parlamentes der Tschechoslowakischen Republik gewählt.

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Samtene Revolution

Es ist bezeichnend für dieses „Wunderjahr“ 1989, dass Dinge, die schier unmöglich erschienen, innerhalb weniger Zeit Realität wurden. Ein politisch Verfolgter Intellektueller wird Präsident und ein Mann, der Mut zur Veränderung hatte und über 20 Jahre warten musste, bis seine große Stunde kam, wird Parlamentspräsident. 1989 erneuerte den Glauben an die persönlichen Überzeugungen, an den Glauben an eine bessere Welt und an seine Ideale. 1989 zeigte, dass das Unmögliche wahr wird und mit einer unbeschreiblichen Wucht die kühnsten Träume wahrwerden lässt.

Als letztes Land folgte 1989 Rumänien. Nicolae Ceaușescu regierte Rumänien seit über 30 Jahren und war ähnlich wie Hohnecker kaum zu einer Abänderung des stalinistischen Kurses bereit. Während einer Rede kurz vor Weihnachten im Dezember 1989 entlud sich der Volkshass und innerhalb weniger Tage wurde der Diktatur gestürzt. Das ärmste Land Europas schlug auch einen demokratischen Weg ein.

Am Ende des Jahres 1989 waren sämtliche ehemals eisern regierte osteuropäischen Staaten am Beginn eines langen Transformationsprozesses hin zu Demokratie und zu Marktwirtschaft, der mit all den Problemen bis heute andauert.

1989 stellt eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte dar. Das Jahr gilt als wirkliches Ende des Zweiten Weltkrieges, über 40 Jahre nach dem offiziellen Ende des bisher schrecklichsten Krieges der Welt. Die Nachkriegsordnung, die Einteilung in Ost und West fiel innerhalb weniger Monate zusammen. Es war letztendlich eine Kombination von vielem, die 1989 zu dem gemacht hat was es ist: Ein unvergessliches und bis heute nachwirkendes Jahr, in der viele Menschen das Wichtigste, wofür es sich lohnt auf dieser Erde zu leben wieder gewannen: Die Freiheit.

Eine besondere Konstellation der politischen Entscheidungsträger – Gorbacev mit seiner Versöhnungspolitik auf der einen Seite, George Bush auf der anderen, ein polnischer Papst Johannes Paul II. und ein Helmut Kohl, der die Gunst der Stunde nutzte und den Traum von einem vereinten Deutschland Realität machte, sind fundamental wichtig für die Vorgänge im Jahre 1989.

Aber letztendlich war es der Druck aus dem Volk, der Druck von unten, der dieses Jahr möglich gemacht hat. Der Drang nach Freiheit wurde zu groß sich länger einem Regime unterzuordnen. Die „Macht der Straße“ fegte Machthaber innerhalb weniger Monate aus ihren Regierungssitzen, wie sie es sich wohl nie vorgestellt hätten. Genau dieser Punkt unterscheidet 1989 von all anderen Ereignissen des 20. Jahrhundert. 1989 war nicht geplant, es passierte nicht von oben, sondern von unten.

Gerade 2014, in einem Jahr, indem viele Menschen mit totalitären Regimen sympathisieren und glauben mit einem „Führer“ ginge alles leichter, sollte man an 1989 denken, an den Mut, den die Menschen aufgebracht haben um für ihre Überzeugungen zu kämpfen und die Freiheit, ein kostbares Gut, das jederzeit wieder verloren gehen kann, erlangt haben.

Dass 1989 überwiegend friedlich ablief, stand nämlich von Anfang an nicht fest. Doch gegen den immer stärkeren Freiheitsdrang des eigenen Volkes war auch der am besten ausgerüstete Unterdrückungsstaat nicht gewappnet. Das Volk nahm sein Schicksal 1989 selbst in die Hand.

Was blieb von 1989?

Nachwirkend sind die Schockwellen, die von 1989 ausgingen, bis heute spürbar. 1990 – nur 1 Jahr nach den Massendemonstrationen in der DDR – folgte die Wiedervereinigung Deutschlands, die die logische Konsequenz des Endes der DDR war.

Der Sowjetunion ereilte ein ähnliches Schicksal wie ihren Satellitenstaaten:  Mit 31. Januar 1992 hörte die Sowjetunion formal zu existieren auf. Estland, Lettland und Litauen sowie Weißrussland, Moldawien und die Ukraine entstanden auf Europas Teil als neue Staaten.

Indirekt sorgte 1989 auch für ein neues „Wunder“:  Francois Mitterand, der französische Präsident und Helmut Kohl, der „Kanzler der Einheit“ beschlossen die Euro-Einführung. Im Vertrag von Maastricht 1992 wurde außerdem die Osterweiterung der Europäischen Union vorbereitet. 1989 bedeutete einen undenkbaren Schub für die europäische Einigung. Die Einführung einer einheitlichen Währung, dem Euro, der heute die zweitstärkste Währung der Welt ist sowie das „Schengener Abkommen“, was in den folgenden Jahren auch auf Ostmitteleuropa ausgeweitet wurde.

2004 erfolgte mit dem EU-Beitritt von Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn und den Baltischen Staaten gewissermaßen die „Vollendung“ von 1989, die 2007 mit dem Inkrafttreten des „Schengener Abkommen“ noch vergoldet wurde.

Die Ostgrenzen Österreichs, die 20 Jahre zuvor noch komplett undurchdringbar waren, waren nun frei für jedermann übertretbar. Ob in Andau im Burgenland, wo 1956 zahlreiche Ungarn im Zuge des Volksaufstandes flohen, oder im Grenzgebiet im Mühlviertel, wo auf tschechischer Seite zahlreiche Opfer beim Überschreiten der Grenze starben, gibt es praktisch nur mehr eine symbolische Grenzlinie.

Randgebiete wie das Burgenland oder das Weinviertel profitieren durch die Nähe zu den neuen, alten Nachbarn. Zwischen Wien und Bratislava gibt es tägliche Zugverbindungen und sogar eine Fährverbindung. Obwohl die Geschichte Tschechien und Österreich über 40 Jahre trennte, erkennt man wieder die Gemeinsamkeiten, internationale EU-Projekte fördern das Miteinander.  Ryanair bietet Flüge von Paris, Mailand nach Warschau oder nach Kosice an.

Europa hat den Transformationsprozess erstaunlich gut überwunden.

Doch es ist nicht nur die Europäische Union die daran entscheidend mitgewirkt hat. Europa gibt es heute nicht nur in Brüssel, Europa gibt es heute überall.

Es waren vor allem die Menschen vor Ort, in Tschechien, Rumänien, Ungarn oder in der Slowakei. Sie sind bei null gestartet, haben umdenken müssen und sich ihr Leben neu ordnen müssen. Vergessen ist die Teilung Europas in zwei Hälften, Erasmusstudenten erfahren mehr von Europa als es einen Universitätsprofessor in den 70ern auch nur ansatzweise möglich gewesen wäre. Österreicher leisten ihren Zivildienst heute in Prag oder Budapest ab, Studenten studieren in Warschau oder in Vilnius, neue Straßen und Eisenbahnverbindungen lassen die Teilung Europas vergessen. Wiener fahren nach Sopron einkaufen, Ungarn arbeiten in Wien, Franzosen besuchen Prag oder machen Wildnisurlaub in Rumänien. Berlin hat sich zu einer Multikultistadt entwickelt, die vor allem von jungen Reisenden gezielt ausgewählt wird. Eurovision Song Contest, die EM oder der Euro sind Zeichen eines vereinten Europas. Europa ist stärker als je zuvor, trotz Eurokrise und allgemeiner Skepsis am Projekt EU. Gerade Österreich hat mehr als kaum ein anderes Land von der EU-Osterweiterung und damit indirekt auch vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert. Laut Berechnungen gehen 1% des jährlichen Wachstums nur auf die Osterweiterung zurück – und bringen viel Wohlstand nach Österreich.

Grenzen? Heute nur mehr Markierungen am Boden

1989 brachte die Freiheit nach Ostmitteleuropa und sorgte für das Aufleben alter Verbindungen zwischen Ost und West. Seitdem hat sich diese einzigartige Gegend großartig entwickelt und einen erstaunlichen Wandel hingelegt. In einer globalisierten Welt mit starken Gegenspielern muss Europa – Ost wie West – aber weiterhin am Einigungsprozess arbeiten, an der Überwindung der Nationalstaaten hin zu einem „Europa der Regionen“, in der Grenzen keine Rollen spielen. Wir sind am besten Weg dorthin, wenn wir aufpassen, nicht wieder der europäischen Seuche Nationalismus und Abgrenzung zu verfallen, sondern das was 1989 begonnen wurde, fortfahren.

Ein grenzenloses Europa – grenzenlos nicht nur in Bezug auf Staatsgrenzen, sondern auf Träume, Hoffnungen, auf Chancen. Kein Kontinent außer Europa hat die Möglichkeiten dazu, seinen Menschen ein solch schönes Leben in Freiheit zu bieten. Denken wir an 1989 und packen wir die Probleme an, verteidigen wir die europäischen Grundsätze Demokratie, Meinungsfreiheit sowie Säkularisierung, wenn diktatorische oder religiöse Fundamentalisten diese Prinzipien unterlaufen wollen. Europa hat zwei Weltkriege ausgelöst, litt dann 40 Jahre unter den Folgen als getrennter Kontinent getrennt und hat in einzigartiger Weise wieder zu sich gefunden – nutzen wir die Chance und machen wir aus Europa den Vorzeigekontinent – es liegt in unserer Hand!

Buchtipps

“Grenzland Europa” – Karl Schlögl (Hanser)

ISBN: 978-3-446-24404-7

EUR 22,60

Karl Schlögl ist der Chronist des neuen Europas. Er zeigt auf, dass nach 1989 Europa einzigartiges aufgestellt hat und dass die Vereinigung von Ost und West auch durch Billigfluglinien wie Ryanair oder Buslinien mitgestaltet wird.

Der Kreml und die Wende (Studienverlag)

Stefan Karner, Mark Kramer, Peter Ruggenthaler, Manfred Wilke

ISBN: 978-3-7065-5413-8

EUR 39,90
Bisher noch nie veröffentlichte Originaldokumente aus russischen Archiven zeigen die Reaktionen und die Vorgangsweise des Kremls auf die Entwicklungen in Osteuropa hautnah. Sehr detailliert und unter Mitwirkung der Uni Graz erstellt.

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