Es war einmal vor langer Zeit eine Region im Herzen Europas, in der sich die drei großen Sprachgruppen Europas trafen– die romanische, die germanische und die slawische. Nach Jahrzehnten von blutigen Konflikten entschied man sich zusammen- statt gegeneinander zu arbeiten. Man gründete Arbeitsgemeinschaften, förderte den Austausch untereinander und versuchte so die alten Gräben untereinander abzubauen. Befeuert wurden diese Tätigkeiten von einer Idee eines gemeinsamen Europas, in der auch Grenzen keine Rolle mehr spielten, sondern lediglich fließend Veränderungen stattfinden. Diese Region – die Alpe Adria Region – erreichte schier unmögliches. Ehemalige Erzfeinde wurden zu Freunden. Statt sich am Schlachtfeld gegenseitig zu bekriegen radelte man am Sonntag von einem Land ins andere – und wieder retour. Es schien als sei die dunkle Geschichte der Region für immer beendet, als im Jahre 2007 die Grenzbalken zwischen Österreich, Italien und Slowenien fielen und die Alpe-Adria Region Realität wurde.
Doch dann kamen die Flüchtlinge. Innerhalb weniger Monate brachte eine Migrationsbewegung die reichsten Staaten der Welt dazu sich von ihren Idealen zu verabschieden. Das Wort „Grenze“ ist wieder allgegenwärtig. Immer lauter werden die Stimmen, die eine totale Abriegelung der Grenze verlangen, die sich wie in einem Schloss verstecken wollen und anscheinend längst kapituliert haben. Denn die Lösung eines GLOBALEN Problems in einer LOKALEN Lösung zu sehen zeigt wie wenig Lösungskompetenz man sich selbst noch zutraut. Es ist ein letzter hilfloser Versuch sich der Realität nicht stellen zu müssen.
Viel tiefer jedoch wiegt die Kapitulation von selbst ernannten Werten, von einem gemeinsamen Europa, dass man nach Jahrhunderten der Kriege errichten wollte. Die derzeitigen Vorgänge zeigen, dass Europa seine Führungsrolle schon längst abgegeben hat. Es ist nur eine Frage der Zeit bis andere, aufstrebende Länder diese einnehmen werden bedingt durch das Vakuum, das durch Europas Hilflosigkeit entsteht. Und was wird aus Europa? Der „alte Kontinent“ ist jetzt bereits so zerstritten, dass sogar das, was durch die Gründung der EU eigentlich ausgeschlossenen werden sollte – nämlich Krieg – bald vielleicht sogar denkbar wird.
Es ist völlig entgegen jeder Logik was derzeit in Europa passiert. Konflikte im 21. Jahrhundert folgen nicht mehr Staatsgrenzen. Konflikte sind komplex und betreffen viele Länder, ja sogar Kontinente. Der Syrienkonflikt zeigt, dass Europa auch von kriegerischen Auseinandersetzungen auf einem anderen Kontinent letztendlich nicht mehr verschont bleibt. Durch die „technologische Revolution“ ist die Welt eine noch viel vernetztere geworden als sie es noch vor 20 Jahren war. Dennoch ist die einzige Lösung, die den nationalen Regierungen einfällt eine des 20. Jahrhunderts. Die traditionelle Grenzsicherung funktionierte –(wenn sie es je überhaupt tat, die Terroristen der RAF in den 1970er Jahren konnten sich trotz „geschlossener Grenzen“ recht mühelos innerhalb Europa organisieren) in Zeiten, in denen die Welt weniger vernetzt war, als sie es heute ist und als Konflikte anderen Spielregeln folgten. Als gutes Beispiel aus der Geschichte sei der erste Weltkrieg genannt. Sämtliche Pläne, die von den Militärs der Kriegsparteien ausgearbeitet wurden, zeigten Angriffsstrategien des 19. Jahrhunderts, wie die vollkommene Überforderung mit einer neuen Dimension von Krieg bei den beteiligten Militärs zeigte.
Ähnlich sieht es derzeit in Europa aus mit der einfachen Parole „Grenzen dicht!“. Europas Politiker haben keine Antwort auf das Problem. Sie sind mit der Situation vollkommen überfordert und um das einfache Volk zu befriedigen, dass gerne in „Schwarz-Weiß“-Mustern denkt, dh. möglichst einfache „Lösungen“ bevorzugt, werden einige Kampfparolen hinausgeworfen, die das Volk beruhigen sollen. Denkt man jedoch die logische Konsequenz aus „Grenzen zu“ durch, dann kommt man ins Grübeln. Grenzen dicht – gut. Wie soll dann aber eine Grenzsicherung aussehen, falls die Flüchtlinge andere Wege suchen, um einzureisen – etwa über Bergpässe – usw. nachdem alle Straßenübergänge gesichert sind. Wie sollen 2706 Kilometer österreichischer Grenzen komplett gesichert werden, die teilweise durch Hochgebirge oder entlang von Flüssen verlaufen? Die Kosten für die Errichtung eines Zaunes, wie sie die FPÖ fordert, dürften bei 2706 Kilometer wohl alle finanziellen Grenzen (!) sprengen. Woher soll das Personal für eine solche Grenzsicherung kommen? Sollen dann etwa 40% der Österreicher im Grenzschutz tätig sein?
Die Absurdität von „Grenzen zu“ lässt sich auf europäische Ebene noch deutlich steigern. Denn mangels fehlender, europäischer Lösung versucht derzeit jedes (betroffene) Land selbst die Einwanderung in Griff zu bekommen.
In sozialen Netzwerken wird vor allem Griechenland (und gelegentlich auch Italien) vorgeworfen, nicht genug für die Sicherung der Schengen-Außengrenzen zu unternehmen. Italien besitzt ebenfalls über 2000 Kilometer Grenze am Landweg und eine extrem lange Seegrenze zu Kroatien sowie indirekt auch zu Afrika – woher auch die Flüchtlinge kommen. Bei Griechenland ist die Lage noch komplexer, da bedingt durch seine Geografie sich eine sehr lange Seegrenze mit vielen – oft unbewohnten – Inseln ergibt. Wie soll also eine von den Kritikern geforderte komplette Sicherung der Grenze stattfinden? Soll halb Griechenland Tag und Nacht die gesamte Küste mit Booten abfahren und Flüchtlinge daran hindern einzureisen? Und was eigentlich dann? Soll man den Flüchtlingen auf ihren oft kaum seetüchtigen Booten erklären, dass das eine EU-Außengrenze ist und diese Grenze „dicht“ ist und sie deswegen bitte wieder umdrehen sollen?
Steigert man das Ganze auf eine europäische Ebene so sieht man, dass eine komplette Sicherung einer Außengrenze nicht möglich ist. Sowohl auf dem Landwege als auch übers Wasser ist „Grenzen dicht“ nicht durchführbar. Die Idee einer „Festung Europa“ wird bedingt durch zu hohe Kosten eine Utopie bleiben. Eine erhöhte Sicherung der EU-Außengrenzen ist sicherlich möglich, wird jedoch nicht dazu führen, dass ein 100%iger Schutz gegeben ist. Noch unsinniger sind derzeit jedoch die Errichtung von Zäunen und die Einführung von Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen. Welchen Sinn soll es haben, wenn ein Zaun etwa durchschnittlich alle 150 Kilometer (etwa bei Kroatien – Slowenien – Österreich – Deutschland) steht? Die Antwort ist: Es gibt keine Sinnhaftigkeit für dieses Unterfangen. Europas Politik ist ratlos und versucht verzweifelt mit einer Methode der Vergangenheit auf aktuelle Probleme zu reagieren.
Grenzüberschreitende Fahrradwege sagen mehr aus als man glauben mag |
Obwohl die totale Grenzsicherung eine Utopie bleibt, sind die nationalen Regierungen – bedingt durch ihre Ratlosigkeit – davon überzeugt mit Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen das Richtige zu tun. Die Ankündigung von Österreich neben dem bereits bestehenden Spielfeld nun auch an zwölf anderen Grenzübergängen Grenzkontrollen zu installieren, zeigt dies gut. Leider übersieht die österreichische Regierung auf ihrem populistischen Wege hin zu einfachen „Schwarz-Weiß“ Lösungen der Vergangenheit, dass sie etwas Einzigartiges mit nur einer Aktion zerstört. Denn wieder ist es die Alpe-Adria Region, die im Fokus steht dieser „Renaissance der Grenzen“. Vorbei die Zeit von grenzenlosen Radwegen und „shopping senza confini“, vorbei die Zeit, in der die Symbolik, die hinter Schengen steht und die von so vielen unterbewertet bzw. oft überhaupt nicht beachtet wird, eine wichtige Rolle spielt.
Doch es steht viel mehr am Zusammenbruch als nur grenzüberschreitende Fahrradwege. Vor exakt hundert Jahren kämpften Österreicher und Italiener gegeneinander an einer der brutalsten und vernichtendsten Frontlinie des Ersten Weltkrieges, die sich von Südtirol bis nach Triest zog – genau dort, wo seit 2007 keinerlei Grenzkontrollen mehr stattfinden. Mehr als 1 Million Opfer war das Resultat allein dieser Frontlinie in einem globalen Krieg, der bald darauf seine Fortsetzung fand. Wenn also im Jahre 2016 Fahrradwege genau über diese ehemaligen Frontlinien verlaufen und die Grenze ihren Schrecken verloren hat, dann zeigt sich, dass die Menschheit doch etwas von ihrer Vergangenheit gelernt hat. Die künstlich geschaffene Brennergrenze (im Grunde sind sämtliche Grenzen rein künstlich festgelegte Linien) ist bis heute Symbol dieses turbulenten 20. Jahrhunderts. Denn nach der Trennung in Nord- und in Südtirol war es genau jene Europäische Union, die wieder eine Einheit Tirols brachte durch die Nivellierung jener vor 100 Jahren geschaffenen Grenze. Wenigstens scheinen die lokalen Landeshauptmänner von Südtirol, Nordtirol und des Trentinos diesen Fakt nicht ganz vergessen zu haben, in dem sie sagten, dass „keinesfalls es zu einer Sperre der Grenze käme“.
Leider spielt diese Symbolhaftigkeit im politischen und öffentlichen Diskurs heute kaum eine Rolle mehr. Oftmals wird sie gar als „Träumerei“ abgestempelt, die die Realität nicht beachtet. Frieden wird als selbstverständlich angenommen und der mühsame Abbau von „Grenzen in den Köpfen“ höchstens belächelt.
Und genau hier liegt der Fehler. Europa ist sich seiner Errungenschaften nicht mehr bewusst. Bedingt durch einen mangelnden Blick auf die eigene Geschichte ist es drauf und dran dieselben Fehler wieder zu begehen. Es IST von Bedeutung, wenn grenzüberschreitende Fahrradwege eingerichtet werden, denn sie zeigen, dass ein intensiver Austausch hinweg der künstlichen Grenzen stattfindet.
Und noch relevanter wird die Relevanz von freien EU-Binnengrenzen, wenn man die historische Perspektive hinzunimmt.
Die vollkommen unsinnige „Grenzen zu!“ Propaganda riskiert den Fortschritt Europas zu zerstören, der so mühsam in kleinen Schritten erfolgte. Leider sind es derzeit nur wenige Stimmen, die diese Bedeutung hinter der Europäischen Union und hinter Schengen erkennen. Die Stimmung ähnelt jener von 1914, als Nationalismus und ein fehlendes Bewusstsein für die Bedeutung von Frieden Europa in den Abgrund gestürzt haben. Nur wenige haben damals vor den negativen Auswirkungen eines Krieges gewarnt. Europas derzeitiger Weg zurück in den Nationalismus und die völlig wirkungslose „Grenzen zu“-Propaganda wird die massive Flüchtlingsbewegung nicht stoppen, sie wird jedoch vielleicht vieles, was in den letzten Jahren an Freiheit und an Grenzenlosigkeit aufgebaut wurde nach Jahrzehnten des Krieges, unwiderruflich zerstören. Soll das Europas Zukunft sein?
Die Alpe-Adria Region steht im Fokus dieser Zukunft Europas. Sie hat gezeigt, dass aus Feinden Freunde werden können und das (künstliche!) Grenzen abgebaut werden können. Die neue „Kampflinie“ der österreichischen Regierung setzt auf die Zerstörung jenes Fortschrittes. 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wird sich zeigen, ob Europa es schafft aus seiner Vergangenheit zu lernen oder in der Bedeutungslosigkeit, zerstritten und im Nationalismus verfangen, unterzugehen. Hier sind sich auch die drei Länderchefs einig – „Europas Weg entscheidet sich am Brenner“.