Visionen zum Scheitern – Michail Gorbatschow und was wir von ihm lernen können
Wo sind die Visionen geblieben? Ein Blick in die Agenda der weltweiten Politik zeigt ein ernüchterndes Bild geprägt von Zukunftsängsten und einer pessimistischen Weltanschauung. Die Leitmaxime der Politiker im Jahre 2018 sind nicht geprägt von optimistischen Visionen für eine bessere Zukunft, sondern dienen maximal der Verwaltung des Status Quo – im besten Fall. Umso mehr kann es daher nicht schaden den Blick auf einen großen Visionär des 20. Jahrhunderts zu werfen, der von einem anderen System träumte und seine ganze Energie in die Realisierung einer neuen Weltordnung steckte. Michail Gorbatschow wird heute zwiespältig gesehen, für die einen ist er ein Held, für die anderen ein Volksverräter. Unbestritten ist jedoch: Er war ein Visionär, der die Welt verändert hat.
Das „kurze 20. Jahrhundert“ von 1918 bis 1989 wird vom britischen Historiker Eric Hobsbawn auch als „Zeitalter der Extreme“ bezeichnet. Es war eine Periode gekennzeichnet von totalitären Diktaturen und Kriegen, denen Millionen von Menschen zum Opfer gefallen sind. Michail Gorbatschow wurde am 2. März 1931 geboren, mitten in eine Phase brutaler Zwangskollektivierungen und einer schrecklichen Hungersnot. Als Kind erlebte der kleine Michail den Zweiten Weltkrieg hautnah mit und entwickelte sich nicht zuletzt wegen diesen prägenden Erlebnissen zu einem überzeugten Gegner von Gewalt – eine Eigenschaft, die eine Konstante in der Biographie eines der einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts darstellen wird. Noch viel mehr dieser Konstanten sind in der neuen Biographie vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler William Taubman zu lesen, der mit „Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit“ ein biographisches Meisterwerk hingelegt hat. Auf über 700 Seiten beschreibt er das Leben jenes Mannes, der die Sowjetunion zu Grabe getragen hat und maßgeblich zur Überwindung der bipolaren Welt beigetragen hat – und das von der ersten bis zur letzten Seite so spannend, dass man tief in die Geschichte der Sowjetunion und der ganzen Welt eintaucht. Doch hier geht es nicht darum die Geschichte Michail Gorbatschows oder der Sowjetunion nachzuerzählen, sondern es geht um ein „Lernen von den Personen“, ein „Best-Practise“-Beispiel sozusagen, immerhin schaffte Gorbatschow es aus einem kleinen Dorf als Bauernjunge bis in den innersten Machtzirkel der Sowjetunion. Was können wir mitnehmen, um selbst Visionen für unser Leben und unser Umfeld zu entwerfen?
Was ist das für ein Mensch, wo liegen die Geheimnisse seines Erfolges? Und wo seine Fehler? Die Biographie von Taubman liefert Antworten darauf und erklärt vor allem wieso er so wurde wie er ist und wieso er letztendlich die Welt verändern konnte. Gorbatschows schwere Kindheit zwischen Hungersnöten und dem Zweiten Weltkrieg ist sicherlich prägend gewesen für den Charakter des späteren Staatsmann Gorbatschow, da er in dieser Zeit viele Entbehrungen hinnehmen musste. Es war ein einfaches Leben, doch schon früh zeigte sich der Ehrgeiz von Gorbatschow, etwa als er den „Roten Banner der Arbeit“, persönlich von Stalin signiert, als Dank für die besonders hohe Leistung bei der Heuernte erhielt. Neben der bereits erwähnten kompletten Ablehnung von Gewalt wurde auch Ehrgeiz eine Konstante im Leben von Gorbatschow. Beim Studium an der renommierten Staatlichen Universität Moskau lernte er überdurchschnittlich viel, teilweise Tag und Nacht. Sein Einsatz zahlte sich aus – und er stieg schnell auf der Karriereleiter auf. Gorbatschow war dabei anders als die anderen Funktionäre in der Kommunistischen Partei – trank wenig, hatte einen straffen Arbeitsalltag und er interessierte sich sehr für die Literatur und die Wissenschaft.
Gorbatschow spielte mit dem System und haderte mehrmals während seiner Karriere mit der offiziellen Parteilinie, etwa beim Einmarsch der Sowjetarmee beim Prager Frühling 1968. Offiziell unterstützte er die Politik der Partei, doch insgeheim lehnte er sowohl die Gewalt als auch die Einmischung in die Angelegenheiten der Tschechoslowakei ab. Er selbst studierte in Moskau mit Kommunisten aus der Tschechoslowakei, zu seinen Freunden zählten führende Vertreter des Prager Frühlings. Und dennoch hielt Gorbatschow lange still, nur in seinen Tagebüchern und gegenüber engen Freunden sowie seiner Familie war er offen und sagte er was er wirklich dachte: Ein Zwiespalt, den wohl kaum viele Menschen lange beibehalten können. Doch Gorbatschow machte Karriere und stieg immer rascher die Karriereleiter empor, bis er 1985 schließlich zum Generalsekretär der Sowjetunion gewählt wurde. Erst jetzt konnte er frei schalten und walten – und seine Visionen umsetzen.
Gorbatschows Visionen hatte er nicht erst von Anfang an, sie entwickelten sich viel mehr langsam. Er hatte mehr vor Augen was er nicht wollte, als was er wollte und zwar jene autoritäre Sowjetunion, die seine Kindheit und sein halbes Leben geprägt hatte. Er hatte die Vision seinem Volk die Freiheit zu schenken und mit ihr demokratische Mitbestimmung inklusive freier Meinungsäußerung – das was später unter Glasnost bekannt wurde. Dem gegenüber setzte er massive Umbauten in der Wirtschaft, die Perestroika. Das Besondere an Gorbatschow ist dabei, dass er einer klaren Vision folgte. Er wollte eine freiere Welt, die nicht vom ständigen Atomwettrüsten geprägt war, sondern von gegenseitiger Zusammenarbeit. Sein „Haus Europa“ sollte neben Russland alle Staaten Europas umfassen und sich einordnen in eine friedlich koexistierende Weltgemeinschaft. War Gorbatschow ein Träumer? Wohl kaum. In unserer Gesellschaft werden Menschen dafür verurteilt, wenn sie scheitern. Das Scheitern gilt als Zeichen von Schwäche und Unkenntnis, als Zeichen dafür, dass man auf der Verliererseite steht und es nicht geschafft hat. Doch diese Denkweise ist falsch. Es sind genau Menschen wie Gorbatschow, die die eigentlichen Helden unserer Gesellschaft sind. Ja, es ist ihm nicht gelungen die heruntergewirtschaftete Sowjetunion zu retten, geschweige denn sie zu sanieren. Seine Wirtschaftsprogramme haben nie funktioniert – sie sind grandios gescheitert. Doch sowohl die Politiker, als auch die Bevölkerung, die bis heute kein gutes Haar an Gorbatschow lässt, machen es sich einfach bei der Verurteilung Gorbatschows: Es ist einfacher mit Belehrungen zu kommen, als selbst Visionen zu entwickeln und diese umzusetzen. Gorbatschow sah zu wie sich ein sowjetischer Satellitenstaat nach dem anderen von der Sowjetunion abwandte. Die Berliner Mauer fiel ohne einen einzigen Schuss. Sicherlich: Das war nicht das Werk von Gorbatschow alleine, doch es wäre ohne ihn auch nie dazugekommen. Gorbatschow gab seinen Landsleuten Mitspracherechte, er gab ihnen das Wahlrecht und erlaubte freie Presse – und er tat etwas, das nur wenige Staatsmänner vor ihm taten: Er gab freiwillig von seiner Macht ab, um seine Vision einer besseren Welt wahr werden zu lassen. Als er 1985 zum Generalsekretär gewählt wurde, war seine Macht nahezu unbegrenzt – 6 Jahre später wird er 1991 von Boris Jelzin im Fernsehen während einer live übertragenden Rede bloß gestellt, als dieser die Kommunistische Partei, dessen Vorsitzender Gorbatschow war, verbot. Ein Ausnahmepolitiker, nicht nur für Russland. Kann man sich das bei Politikern wie Putin, Erdogan oder Trump vorstellen?
Neben seiner Ablehnung von Gewalt, seiner unglaublichen Arbeitsmoral und seinen Visionen war Gorbatschow ein unablässiger Optimist, der stets das Positive sah. Taubman spricht davon, dass „er es schaffte, der zuversichtliche und optimistische Mensch zu bleiben, der er immer gewesen war.“ Selbst nach dem verheerenden Putsch im August 1991 blieb er zum großen Teile optimistisch und, selbst in einem Interview lange nach seinem Abschied von der Macht, sagte er über sich selbst, dass er glücklich sei. Ja, es brauchte voll eine gehörige Position Optimismus, um ein am Boden liegendes Land wie die Sowjetunion zu reformieren – eine Mammutaufgabe, die er 1985 übernommen hatte und die er letztendlich nicht erreichte. Und dennoch: Es war sein Optimismus, der überhaupt das Ende des Kalten Krieges möglich machte. Die Politiker von heute machen Stimmung, indem sie eine düstere und negative Zukunft zeichnen, sie sprechen die Ängste der Bevölkerung an und stellen die Gegenwart als Inbegriff des Bösen dar. Es scheint unserer Zeit entsprechen pessimistisch in die Zukunft zu schauen. Sieht man sich Inhalte vieler Parteien heute an, so ist es ein ernüchterndes Bild voll von Pessimismus. Das Glas für sie ist halb leer und die Zukunft ein negativer Ort des Niedergangs. Dabei bräuchte es genau heute Optimismus, denn wir stehen vor ähnlichen Mammutaufgaben wie Gorbatschow 1985: der globale Klimawandel, die Kehrseiten der Globalisierung, Armut und Migration um nur einige der Kernthemen zu nennen. Es gibt hier nur eine Lösung: Mit Optimismus an die Sache herangehen und das Risiko zu scheitern in Kauf zu nehmen.
Was können wir von Gorbatschow lernen? Einerseits eine strikte Prinzipientreue seiner Linie treu zu bleiben – der Zerfall der Sowjetunion ging Großteils unblutig vor sich mit einigen wenigen Ausnahmen wie beim „Vilniuser Blutsonntag“. Doch Gorbatschow hat in seiner gesamten Parteikarriere niemals den Einsatz von Gewalt zugestimmt – auch in Vilnius folgte der Entschluss ohne seine konkrete Zustimmung. Er ist seiner strikten Ablehnung von Gewalt klar geblieben und hat sich nicht von seiner Linie abbringen lassen, selbst als die Sowjetunion vor seinen Augen kollabiert ist. Dann ist da sein unermüdlicher Arbeitseinsatz, ein straffes Arbeitspensum, ohne dessen man letztendlich nie zum Erfolg kommt. Doch das Wichtigste sind ein gesunder Optimismus ohne den Blick auf die Realität zu verlieren. Große Aufgaben können nur mit einer optimistischen Sichtweise angegangen werden – ansonsten ist das Unterfangen schon davor zum Scheitern verurteilt. Und dann sind da noch die Visionen, die notwendig sind um die Zukunft besser zu gestalten. Man darf sich nicht abschrecken lassen von jenen Menschen, die einen diese Visionen ausreden zu versuchen oder meinen, dass dies doch undurchführbar ist – nein, man muss sie konsequent Schritt für Schritt umsetzen und mit einer gesunden Portion Realitätssinn weiter an seinen Visionen arbeiten – Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Michail Gorbatschow gab Macht ab, um seine Visionen umzusetzen. Er gab seinen Landsleuten Presse- und Medienfreiheit, die nur wenige Jahre danach unter Jelzin bereits drastisch reduziert wurde. Unter Putin ist Russland wieder, wie es Taubman bezeichnet zu seiner „traditionellen, autoritären, antiwestlichen Norm“ zurückgekehrt. Während Gorbatschows Zeit gab es – einzigartig in der Geschichte Russlands – eine freie Presse und eine aufstrebende Zivilgesellschaft. Es ist dies das Werk eines Menschen, der nicht nur Russland veränderte, sondern die ganze Welt. Mit Optimismus und klaren Visionen einer besseren Zukunft schaffte er es Europas Teilung zu überwinden und beendete den Kalten Krieg. Die Sogwirkung jener Jahre haben wir viel zu verdanken: Zusammen mit Helmut Kohl, Francois Mitterand oder Hans Dietrich Genscher sowie anderen gaben sie Europa eine neue Ordnung – wenngleich Gorbatschows Vision eines „Haus Europas“ unter Einbeziehung Russlands leider auch wegen fehlenden Willens der westeuropäischen Politiker nicht umgesetzt wurde. Doch es war eine Vision – die zumindest teilweise realisiert ist. Trotz all den Problemen und Konstruktionsfehlern, die eine Europäische Union aufweist ist es erstaunlich wie Europa in den letzten 20, 25 Jahren zusammengewachsen ist. Die Bruchlinien sind noch immer vorhanden, doch mit der Politik Gorbatschows begann ein Prozess, der bis heute in weiten Teilen Europas Frieden gewährt. Das Erbe Gorbatschows wird heute zwiespältig beurteilt und dennoch lebt die Vision eines friedlichen Europas in der Idee einer Europäischen Union weiter. Nun liegt es an uns mit einem ähnlichen Einsatz wie Gorbatschow selbst Visionen zu entwickeln, die eine wirklich demokratische EU bedeuten könnten, die jedoch auch zumindest freundschaftliche Beziehungen zu Russland haben sollte.
Vom Erbe Gorbatschows ist heute in Russland nicht mehr viel da – und auch in Ungarn und Polen drehen Politiker eher am Rad der Zeit zurück. Doch es wäre viel zu einfach Gorbatschow einfach den Untergang der Sowjetunion mit all den negativen Folgen zuzuschieben. Gorbatschow war ein einzigartiger Staatsmann und vielleicht sogar der Bedeutendste Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Es wird Zeit auch ihn mehr Respekt zu zollen.
Taubman:
„Gorbatschow war ein Visionär, der sein Land und die Welt veränderte – wenn auch keines von beiden so weit, wie er es sich gewünscht hätte. Die wenigsten Politiker, wenn überhaupt jemand, haben nicht nur eine Vision, sondern auch den Willen und die Fähigkeit, diese voll in die Realität umzusetzen. Das Ziel nicht ganz zu erreichen, wie im Fall Gorbatschows, ist noch lange kein Scheitern.“
Neben Prinzipientreue, Fleiß, Optimismus und Visionen ist es das, was wir für unser Leben mitnehmen können: Ein Ziel nicht ganz zu erreichen ist kein Scheitern, an seiner Vision zu scheitern ebenso nicht. Das Schlimmste ist es überhaupt keine Visionen zu haben an denen man scheitern kann. In diesen Sinne: Auf in eine optimistische Zukunft voll von positiven Visionen!
Buchtipp:
William Tuabman – Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie. C.H.Beck. 2018.